Heloïse (1095-1164) war die Lieblingsschülerin des Lehrers Petrus Abaelard (1079-1142). Sein Esprit entflammte sie. War ihre heimliche Affäre ein Akt des Missbrauchs? Heloïse liebte Abaelard, wie ihr berühmter Briefwechsel zeigt. War sie die Verführerin des Priesters? Oder war sie das Opfer? Wer darf diese Fragen überhaupt stellen? Der Gelehrte war wesentlich älter als seine hochbegabte Schülerin. Er hatte seine Stellung als Lehrer missbraucht. Als Heloïse ein Kind erwartete, wurde mit dem Täter nicht lange gefackelt. Ein Onkel der Schwangeren ließ das Genie entmannen. Diese Form der Selbstjustiz gilt heute noch in manchen Kulturen als gerecht und geboten. Sünderinnen werden noch immer gesteinigt. Heloïse dagegen wurde von ihrer Familie aufgefangen und verbrachte ihre Restlebenszeit im Kloster.
„Maria und Johannes waren Jesus näher als Petrus.
Aber ihm und seinen Nachfolgern traute er Unmögliches zu:
das Schiff der Kirche durch die Zeiten zu steuern“
Im Jahr 1226 wurde ein Frauenorden gegründet, der sich die Betreuung von Missbrauchsopfern zur Aufgabe machte. Die Magdalenerinnen boten auch Prostituierten die Möglichkeit einer Resozialisierung. Sie fanden Unterkunft und Arbeit in den Heimen des Ordens und konnten sich auch für ein Leben als Nonne entscheiden. Schutzpatronin dieser Frauenhäuser war Maria aus der Stadt Magdala. Sie galt als Urbild einer Sünderin, die Jesus vorbehaltlos angenommen hatte. Die Begegnung geschah in der Öffentlichkeit und vollzog sich auch deshalb in ungewöhnlicher Dichte, weil die stadtbekannte Prostituierte kein Wort sprach, sondern ihren Wunsch nach Wandlung und Erneuerung ihres Frauseins in einer Symbolhandlung inszenierte. Jesus war der Einladung zu einem Gastmahl im Haus des Pharisäers Simon gefolgt (Lukas 7, 36-50), als sich dieser performative Akt vollzog.
Die Frau hatte sich ihm von hinten genähert. Ihre Tränen flossen und benetzten Jesu Füße. Dann ging sie in die Knie, trocknete mit ihren langen Haaren die Füße, küsste sie und salbte sie mit kostbarem Öl. Der Gastgeber schwieg. Jesus las seine negativen Gedanken und rechtfertigte sein Tun mit einer seltsamen Begründung: „Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt.“ Dann spricht er der Frau die große Wandlung zu. „Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!“ So unmittelbar und unspektakulär kann sich die Aufarbeitung von Vergangenheit vollziehen.
Suche nach Liebe
Was Maria in zahlreichen Begegnungen gesucht hat, war Liebe. Die Liebe hat sie auch zur Umkehr geführt. Søren Kierkegaard war ein Meister der Psychologie des Schuldgefühls. In seiner Kommentierung der Begegnung der Sünderin mit dem Heiligen sagt er: „Es gibt nichts, woran ein Mensch so verzweifelt fest hängt wie an seiner Sünde. Und darum ist ein vollkommen aufrichtiges, tiefes, ganz wahres, ganz schonungsloses Sündenbekenntnis die vollkommene Liebe; ein solches Sündenbekenntnis abzulegen heißt: viel lieben.“ Unbekümmert von der Meinung anderer Menschen, geht Maria ihren Weg. Sie sucht nur das eine: die Vergebung. Damit wird sie zum Urbild einer Liebe, die grenzenlos vertraut.
Der Name Maria Magdalenas fällt bei der Heilung nicht. Ihre überragende Gestalt bildet sich durch eine Kombination verschiedener Erzählungen. Am Ende ist sie die große Sünderin, aus der Jesus sieben Dämonen ausgetrieben hat. Sie ist die Jüngerin unter den Jüngern, die „Apostola apostolorum“. Sie steht unter dem Kreuz, begegnet Jesus nach der Auferstehung und wird schließlich von der Kirche als Heilige verehrt. Die Schönheit ihres Leibes hat unzählige Maler inspiriert. Schriftsteller und Filmemacher haben die Läuterung der großen Liebenden hinterfragt. So dichtet Nikos Kazantzakis in seinem Roman „Die letzte Versuchung Christi“ (1951) Jesus und Maria Magdalena ein Verhältnis an. Davon kann keine Rede sein. Maria ist keine Heloïse. Ihre Liebe kennt das Geheimnis der Wandlung. Sonst hätte sie es unter dem Kreuz nicht ausgehalten.
Die Salbung des Jesus
Zu den biblischen Berichten, die wegen ihrer Unausdeutbarkeit unmöglich erfunden sein können, gehört eine weitere Salbung in Bethanien. Sie geschieht unmittelbar vor dem Einzug in Jerusalem. Jesus ist mit seinen Jüngern wieder einmal bei Martha, Maria und Lazarus zu Gast. Maria wiederholt hier die Salbung der Maria Magdalena und hebt sie erneut auf eine mystische Ebene. Denn der Gesalbte („Messias“) wird das Opfer sein, das mit seinem Tod die Sünde für alle Zeit überwindet. Maria nimmt ein Pfund reines Salböl. Es stammt von der Narde, einer Pflanze, die auf 4 000 Meter Höhe im Himalaya wächst und entsprechend kostbar ist.
Mit ihrem Haar trocknet sie die gereinigten Füße Jesu und salbt sie anschließend zum großen Ärgernis von Judas Iskariot. Die Begegnung der Erwählten und des Verfluchten ist wahrhaft geheimnisvoll und führt in jene unergründlichen Zusammenhänge im Hintergrund der Passion, die erst am Ende der Zeit enthüllt werden. Judas meint, das Nardenöl wäre besser für viel Geld verkauft und der Erlös den Armen gegeben worden. Auf den Bildern ist Maria Magdalena durch ein Salbgefäß, Judas durch das Symbol des Geldsackes zu erkennen. Er führte die Reisekasse. Ihm deshalb Geldgier zu unterstellen, wäre ungerecht.
Dass er seinen Herrn für dreißig Silberlinge verraten habe, ist ebenfalls wenig glaubwürdig. Denn wie alle Jünger hatte er auf jeden Besitz verzichtet. Wie Maria Magdalena wurde er von Satan in Besitz genommen (Lukas 22, 3). War er ein Opfer? Über seinen Tod gibt es zwei Berichte: einmal erhängt er sich aus Verzweiflung, ein anderes Mal öffnet sich in einem Gottesurteil die Erde und Judas stürzt sich zu Tode. Hätte ihm verziehen werden können, wenn er um Vergebung gebeten hätte?
Dass bei Gott kein Ding unmöglich ist, zeigt das weitere Leben der Maria Magdalena. Die „Legenda aurea“ erzählt von ihrer Auswanderung nach Saintes-Maries-de-la-Mer. Hier im Rhone-Delta habe sie einige Zeit mit der schwarzen Sara gelebt, der Schutzpatronin des fahrenden Volkes. Sara gilt die Wallfahrt der Gitans am 24./25. Mai. Wenn Frauen den Flamenco tanzen, dann vollzieht sich die wunderbare Konversion aller dunklen Leidenschaften in eine höhere Hingabe und Herrlichkeit.
Als büßende Eremitin in einer Höhle
Die Legende weiß: Maria habe sich später als Büßerin in eine Höhle zurückgezogen und nichts mehr gegessen, nur das Brot der Engel. Jeden Tag hätten sie die Engel in den Himmel gehoben, wo sie die Eucharistie empfangen habe. Daran ist gewiss kein Zweifel, denn in der Eucharistie wiederholt sich gleichsam die erste Begegnung zwischen Jesus und der Sünderin.
In den vielen Evangelien, die später aus gutem Grund nicht in den Kanon der biblischen Schriften aufgenommen wurden, steht nicht die große Büßerin im Vordergrund. Maria wird hier zur weiblichen Ergänzung des Lieblingsjüngers Johannes. Jesus habe sie mehr als alle Jünger geliebt, „und er küßte sie oftmals auf den Mund“, behauptet das Philippusevangelium. Im Himmel, sagt Jesus in der Pistis Sophia, werden Maria und Johannes zu seiner Linken und Rechten sitzen, „und ich bin sie und sie sind ich.“ Unter dem Namen der Maria Magdalena war auch ein Evangelium im Umlauf.
Konflikt zwischen Petrus und Maria Magdalena
Es berichtet von einem schweren Konflikt. Petrus wehrt sich gegen die herausragende Stellung der Maria. Ein anderer Jünger verteidigt sie: „Wenn der Erlöser sie aber würdig gemacht hat, wer bist denn du, dass du sie verwirfst? Sicherlich kennt der Erlöser sie ganz genau. Deshalb hat er sie mehr als uns geliebt.“ In diesen teilweise gnostischen Schriften kommt Petrus schlecht weg. Ihm werden frauenfeindliche Tendenzen unterstellt. „Maria soll aus unserer Mitte fortgehen, denn Frauen sind des Lebens mit Jesus nicht würdig“, lässt ihn das koptische Thomasevangelium sagen. In der Pistis Sophia wird Maria deutlich: „Ich fürchte mich vor Petrus, weil er mir droht und unser Geschlecht hasst.“
Petrus war mit Sicherheit nicht misogyn. Er war Vater vieler Kinder. Das Haus seiner Schwiegermutter gehörte wie Bethanien zu den Rückzugsorten, an denen Jesus neue Kräfte sammeln konnte. Dennoch sind diese außerbiblischen Evangelien aus kulturgeschichtlicher Sicht interessant. Bezeugen sie doch ein Ringen um die Rolle von Frauen und Männern in der Kirche, das immer wieder neu entflammt. Das Apostelbild in der altchristlichen Überlieferung entwickelte sich in einem langen Prozess. Maria und Johannes waren Jesus näher als Petrus. Aber ihm und seinen Nachfolgern traute er Unmögliches zu: das Schiff der Kirche durch die Zeiten zu steuern. Maria Magdalena hat viel geliebt. Aber Petrus hatte den Mut, sich unbeliebt zu machen und Kontroversen auszuhalten. Nur so konnte er erster Bischof von Rom werden.
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