Homosexualität

Die Anderen: Was sich hinter dem Regenbogen verbirgt

Es gibt homosexuell empfindende Menschen, die ihre Homosexualität als konflikthaft erleben oder beschlossen haben, ein sexfreies Leben zu führen. Diese Menschen werden oft ignoriert - von der Öffentlichkeit und von der Kirche.
Konflikthafte Homosexualität
Foto: Michael Reichel (dpa-Zentralbild) | Viele Personen mit gleichgeschlechtlicher Anziehung identifizieren sich nicht mit der "pride"-Flagge. Trotzdem ist ihnen bewusst, dass die Homosexualität ein Teil von ihnen ist.

Sie flattert groß von Hauswänden und klein von Straßenbahnen. Sie ziert Fußgängerübergänge, den Hintergrund von Logos und sogar die Außenwände von Fußballstadien. Es ist die umgedrehte "Pace"-Flagge, seit den 1970ern ein Symbol für homosexuellen "pride". Für unzählige Schwule und Lesben symbolisiert sie Identität und Outing - etwas, worauf es gilt, stolz zu sein.

Doch nicht für alle Schwulen und Lesben ist ihre Orientierung ein Grund zum Feiern. Ihre gleichgeschlechtliche Anziehung ist mit seelischem Schmerz verbunden, mit Konflikt, mit Fragezeichen. Sie wollen nicht als Lesben oder Schwule gelabelt werden und fühlen sich von der Pride-Flagge nicht repräsentiert. Trotzdem ist die Anziehung zum gleichen Geschlecht für viele ein tagtäglicher Begleiter. Das sind die Anderen, denen die gesellschaftliche, mediale und kirchliche Bühne keinen Platz gibt.

Es ist 8.30 Uhr in einer österreichischen Kleinstadt. Aus dem offenen Kirchentor dringt das gebrechlich klingende "Gegrüßet seist du, Maria", das aus den Mündern einer Gruppe von achtzigjährigen Frauen tönt, auf die Straße. Inmitten der Alten kniet Lorenz (Lorenz heißt in Wirklichkeit anders; um seine Anonymität zu wahren, wurde sein Name wie auch der Name der anderen im Text auftretenden Person geändert). Er hat die Hände gefaltet, die Augen geschlossen. Mit seinen Mitte Dreißig senkt er den Altersdurchschnitt erheblich. Lorenz trägt Vollbart, einen leichten Irokesen und ein T-shirt mit der Aufschrift "Love your neighbour". Die Acht-Uhr-Messe ist Lorenz täglicher Begleiter, genauso wie seine homosexuellen Empfindungen. Die entdeckte er als junger Student. Damals, so erzählt er, war er süchtig nach Schwulen-Pornos und hatte die ersten homosexuellen Kontakte. Kurz davor erlebte er eine Bekehrung am Weltjugendtag 2005. Es kam, dass er nur wenige Meter vor dem damaligen Papst Benedikt XVI. stand. Mit einem Schlag hätte Lorenz gewusst: "Die katholische Kirche ist mein Zuhause, da gehöre ich hin." Der junge Mann beginnt, sich in der Lebensschutzbewegung zu engagieren.

Der Mensch ist ein Werdender

Die kommenden Jahre sind ein stetiger Kampf zwischen seinem Wunsch, ein sexuell enthaltsames Leben zu führen und seiner Sehnsucht nach Nähe und Angenommensein. Wirklich gestillt wird sie durch den schnellen Sex nicht - Lorenz sehnt sich nach echter Beziehung. Drei Jahre Priesterseminar und mehrere Jahre des Ringens später führt Lorenz heute seit zwei Jahren eine Beziehung mit einem anderen Mann. Sex spielt eher eine Nebenrolle. Es ist schön, jemanden zu haben, mit dem er das Leben teilen kann. Lorenz ist sich bewusst, dass das Ausleben der Homosexualität nach der kirchlichen Lehre eine Sünde ist. Deshalb geht er nicht zur Kommunion. "Wie schön, endlich hast du dich gefunden!", kommentieren manchmal Bekannte seine Beziehung. "Nein", gibt Lorenz darauf zur Antwort. Er hat sich dadurch nicht gefunden. Lorenz begreift sich selbst als werdend, seine Sexualität als wandelbar. Die Bezeichnungen "Homosexueller" oder "Schwuler" lehnt er ab. Sie sind ihm zu eng, sagt er. Seine Identität sei Mann-sein, nicht seine sexuelle Orientierung.

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Lorenz fühlt sich weniger zu einem Geschlecht hingezogen, als vielmehr zu Personen. Er findet auch Frauen attraktiv. "Sicher wäre es schön eine Frau zu haben mit der ich Kinder bekommen könnte. Wichtiger ist jedoch für mich gelungene Beziehungen und Freundschaften zu haben, die mich durchs Leben tragen", stellt Lorenz fest. Keine Kinder bekommen zu können wäre für ihn ein großer Schmerz, "doch den müssen andere auch lernen auszuhalten".

Die Sexualwissenschaft geht heute davon aus, dass sexuelle Orientierung nicht statisch ist. Der Sexualwissenschaftler Rolf Gindorf (1939-2016), der zeit seines Lebens in einer homosexuellen Beziehung lebte, lehrt, dass es den Menschen, der eine angeborene Homosexualität in sich trägt, nicht gibt. Vielmehr gebe es zwischen Hetero- und Homosexualität eine Vielzahl von Schattierungen und Zwischenformen. Die These wird gestützt durch Studien, zum Beispiel eine, die 2016 in der EU durchgeführt wurde. Sie zeigt, dass vor allem unter jungen Leuten zwischen 14 bis 29 Jahren die Bandbreite in der empfundenen sexuellen Präferenz hoch ist: Von den 16 Prozent, die sich als nicht rein heterosexuell bezeichnen, sagen lediglich drei Prozent, sie seien ausschließlich homosexuell. Auch die Fluidität (von lat. fließend) ist in dieser Zeit am höchsten, wobei vor allem für das Jugend- und junge Erwachsenenalter kann gesagt werden, dass Homosexualität instabiler ist als Heterosexualität. 98 Prozent der 16- und 17-Jährigen, die sich zu Beginn als homo- oder bisexuell bezeichnet hatten, bezeichneten sich am Ende einer Langzeitstudie von Savin-Williams und Cohen im Jahr 2007 als heterosexuell.

Gleichgeschlechtliche Anziehung biographisch nachvollziehbar

Dass der Mensch ein Werdender ist und die empfundene sexuelle Orientierung das Ergebnis eines Präge- und Verarbeitungsprozesses sein kann, erlebte Roxane als große Erleichterung. Roxanes erotisches Erwachen, so bezeichnet sie es, kam während ihrer Zeit als Philosophiestudentin in Süddeutschland. Bei einer Party setzt sie sich, aus Platzgründen, auf den Schoss einer um viele Jahre älteren Freundin aus dem Tanzklub. Mit einem Schlag überkommt sie ein sexuelles Begehren. "So etwas Intensives kannte ich bis dahin nicht", erinnert sie sich. Ihre spontanen Gedanken damals: "Das ist kein Einzelereignis. Jetzt kommt wohl raus, wer ich bin" - lesbisch. Zugleich brachen alle Vorstellungen ihres zukünftigen Lebens in sich zusammen.

Eine Kommilitonin und Freundin ist die erste Person, der Roxane von ihrer gleichgeschlechtlichen Anziehung erzählt. Die um 18 Jahre ältere, verheiratete Katholikin wirkt weder geschockt noch überfordert. Sie verurteilt die Anfang 20-Jährige nicht, gibt ihr Raum, fragt nach. Die Mitstudentin hatte auch einen längeren therapeutisch begleiteten Weg hinter sich und hat dadurch Verständnis für psychodynamische Prozesse. Durch den Austausch entdeckt Roxane mit der Zeit: Ihre gleichgeschlechtliche Anziehung ist etwas Gewordenes, biographisch Nachvollziehbares, nichts was sie definiert, kein undurchsichtiger Sog, dem sie nachgeben muss um glücklich zu werden. Außerdem ist ihre Freundin ein kritischer Geist. Sie ermutigt Roxane, wach zu bleiben und nicht in bestimmte Szene-Milieus hineinzurutschen, die sie vielleicht zu einer frühen Festlegung bewegen, bevor ihre eigene reflektierte Entscheidung gereift ist.

Von offiziellen kirchlichen Angeboten verraten

Die neuen Erkenntnisse führen dazu, dass sich die junge Philosophiestudentin dazu entschließt, ein sexuell enthaltsames Leben führen zu wollen. "Ich habe die Schönheit der kirchlichen Weisung und der christlichen Anthropologie immer tiefer verstanden", erklärt sie. Außerdem ist sie derzeit in einem Stadium, in dem eine Beziehung bei ihr entweder aus einer emotionalen Abhängigkeit entstehen würde oder in eine führen würde. Roxane gibt zu, dass sie Momente hat, in denen sie sich die Nähe zu einer Frau wünschen würde. Doch sie kennt sich und weiß, dass diese Wünsche meist dann hochkommen, wenn sie keine Menschen um sich hat, mit denen sie verbunden sein kann, mit denen sie emotionale Nähe und Gemeinschaft erleben kann. Dann hat Roxane das sexuelle Ausleben nicht nötig. Eine Beziehung zu einem Mann ist für die Philosophin nicht ausgeschlossen. Sie kann sich Heirat und auch Kinder durchaus vorstellen.

Von offiziellen kirchlichen Angeboten für homosexuell empfindende Menschen fühlt sich Roxane eher verraten. Ihr Eindruck ist, dass meist nicht ergebnisoffen Beraten wird, sondern dass mit dem Outing auch das unhinterfragte Ausleben gefördert wird. Dadurch fühlen sich beide, Lorenz und Roxane, sehr einsam auf ihrem Weg und von der Kirche verlassen. Mit der queeren Pride-Bewegung können beide wenig anfangen, auch wenn sie die Sehnsüchte dahinter gut verstehen: für sich selbst Klarheit schaffen, sich endlich nicht mehr verstecken müssen, sich angenommen wissen, stolz auf sich sein können. Lorenz erzählt, dass er oft an einem Plakat vorbeigeht, wo geschrieben steht "Für eine bunte Kirche unterm Regenbogen". "Hinter dem so fröhlich scheinenden ,Gay-Lifestyle verbergen sich oft Verletzungen und Einsamkeit", so seine Erfahrung. Wie Lorenz möchte sich auch Roxane nicht in die "Homo-Box" stecken lassen. "Ich habe es als befreiend erlebt, dass ich mir dieses Label nicht umhängen muss", äußert sie. Das Leben bringt so viele Wachstums- und Entdeckungsmöglichkeiten, reflektiert Roxane - und fügt lachend hinzu: "Die Box ,Kind Gottes' ist viel größer, die ist nie zu klein."

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