Ernst Meister (1911–1979), der dichtende Philosoph und metaphysische Lyriker aus Hagen in Westfalen ist zu Unrecht fast in Vergessenheit geraten. Obwohl er Mitglied des PEN und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung war, gehörte Ernst Meister auch zu Lebzeiten nicht zu den einer breiten Öffentlichkeit bekannten Autoren. Erst mit seinem Spätwerk erfuhr er endlich eine Bekanntheit, die dann auch bedeutende Preise nach sich zog: 1976 den Petrarca-Preis, 1978 den Rilke-Preis und kurz vor seinem Tod 1979 den Georg-Büchner-Preis. Meisters Spätwerk, das einen Gipfelpunkt in seinem Schaffen darstellt, begann vor fünfzig Jahren mit dem Band „Es kam die Nachricht“ (1970). Die 15 Bände umfassende Gesamtausgabe seiner Werke ist im Aachener Rimbaud-Verlag erschienen.
Dem Grund des Daseins zur Sprache verhelfen
Unabhängig von stilistischen Zeitströmungen, unbeeindruckt offenbar auch von politischen Strömungen und deren Einflussnahme auf die literarischen, stark politisch geprägten Aussageformen der späten sechziger und der siebziger Jahre schuf Meister an seinem poetischen Werk, welches sich den Grundfragen der Existenz verpflichtet weiß. Als Student der Theologie war Meister in eine tiefe Glaubenskrise gestürzt, die er zukünftig in Poesie verwandelte.
Bereits in seinem ersten Lyrikband – zur Zeit seiner Veröffentlichung war Ernst Meister erst 21 Jahre alt – sind seine Gedichte geprägt von dem Bewusstsein des Geworfenseins ins Sein, das seine Spannung bezieht aus seinem Gegenteil, dem Nichts. So heißt es in einem dieser frühen Gedichte: „Im Nichts hausen die Fragen./ Im Nichts sind die Pupillen groß./ Wenn nichts wäre, o wir schliefen jetzt nicht.“ Aus dieser Dialektik bezog Ernst Meister seinen poetologischen Impetus. Sein Bemühen um Erkenntnis mündete für ihn unausweichlich darin, dass er die Dinge „von ihrer Vernichtbarkeit“ verstehen musste. „Lang oder kurz ist die Zeit,/ und das Wahre,/ das sich ereignen wird,/ heißt Sterben.“ Im Licht der Endlichkeit werden Natur, Mensch, Liebe stärker erfahren.
„Mein Gedicht sagt, was ich weiß./
Es fragt dich, was du weißt“
Ernst Meister
An dieser „kosmischen Preisgegebenheit“, wie er selbst das Los des Menschen einmal bezeichnete, trug Ernst Meister schwer. Sprachlich in der Tradition Hölderlins und Rilkes stehend, werden seine anfangs noch von klassischer Rhythmik getragenen Gedichte durch immer stärkere Verknappung der lyrischen Form zu abstrakt-hermetischen Gedankengebäuden. Man spürt, dass dieser Dichter wesentliche Dinge in Sprache kleidet, die jeden Menschen angehen. Ernst Meister formulierte es in einem poetologischen Statement knapp und präzise so: „Mein Gedicht sagt, was ich weiß./ Es fragt dich, was du weißt.“ Sprache hatte für ihn nur Sinn, wenn sie Sinn, das heißt Gedanken vermittelte.
Denken und Bewusstsein wurden mehr und mehr zu zentralen Themen seiner Gedichte. So verwundert es nicht, dass die Lyrik Ernst Meisters hohe Anforderungen an den Leser stellt. Hans Bender sprach einmal davon, wer sich mit dem Werk Ernst Meisters befasse, den zwinge es, „auf sein Niveau hinaufzusteigen“. In einem Gespräch mit dem Literaturkritiker Jürgen P. Wallmann bekannte Meister, „dass bei mir Dichten identisch ist mit Denken“.
Der Vergänglichkeit autonome Sprache entgegensetzen
Und das bedeutete für ihn das ständige Kreisen um die großen Fragen von Dichtung und Philosophie: der Mensch in Raum und Zeit, Werden und Vergehen, Leben und Tod. Die Ansprüche der zivilisatorischen Umwelt waren nicht sein Thema. Einer Welt aber, die ihn durch ihre Vergänglichkeit und Zerstörbarkeit bedrohte, setzte er seine autonome Sprache entgegen, um überleben zu können.
Im Sinne Hölderlin'scher Poetik schafft Meister streng konzipierte Elegien in einer bis auf archaisches Maß reduzierten Sprache. „Hier,/ gekrümmt/ zwischen zwei Nichtsen,/ sage ich Liebe./ Hier auf dem/ Zufallskreisel/ sage ich Liebe.“
Diese Gedichtzeilen stammen aus dem Band „Sage vom Ganzen den Satz“ (1972). Der Titel ist durchaus programmatisch zu verstehen. Zeit seines Lebens versuchte Ernst Meister – in einer Art von „objektloser Religiosität“, wie Hans-Jürgen Heise es einmal formulierte – sich dem Ganzen oder wie man auch sagen könnte, dem Grund zu nähern. „Der Grund kann nicht reden“ – darum lieh der Dichter diesem sprachlosen Grund seine Worte. Seine Poetologie hat gleichermaßen sensuellen und kognitiven, existenziellen und meditativen Charakter. Von Licht ist die Rede, von Schnee und Rose, Schilf und Erde, Himmel und Abgrund, Mensch und Gott, Torheit und Weisheit, Kind und Schmetterling, Gras und Baum, Geist und Leere.
Dichtung ohne Sprachspiele und Surrealismus
In dem folgenden Gedichtband „Im Zeitspalt“ (1976) und dem anschließenden letzten „Wandloser Raum“ (1979) wird die Geschlossenheit von Form und Thematik in einer äußersten Klarheit der Sprache vollendet. Meister hat es – je später, desto weniger – nötig, sich sprachspielerisch, wortzertrümmernd oder surrealistisch (wie noch in den frühen Gedichten) zu artikulieren.
Er treibt die Sprachaussage bis zu einer Lakonik, die dennoch immer lyrisch bleibt. „Geist zu sein/ oder Staub, es ist/dasselbe im All.// Nichts ist, um/ an den Rand zu reichen/ der Leere ... Was ist, ist/ / und ist aufgehoben/ im wandlosen Gefäß/ des Raums.“ Die Gedichte seines letzten Gedichtbandes sind in meiner Sicht die Essenz seines Arbeitens am Wort, an der Sprache. Kürzer, präziser, wahrer kann ein Gedicht nicht sprechen.
„Meine Gedanken waren auf das,
was man Ewigkeit nennt, ausgerichtet“
Ernst Meister bekannte in einem Interview mit Jürgen P. Wallmann – ein halbes Jahr vor seinem Tod und wahrscheinlich das letzte, das der Dichter gegeben hat – dass er „Pascalsche Gedanken“ habe. „Das heißt: Meine Gedanken waren auf das, was man Ewigkeit nennt, ausgerichtet.“ Meister spielte damit auf den Begriff „Zeitspalt“ an, mit dem Pascal die Lebensfrist zwischen einer „Ewigkeit vorher“ und „einer Ewigkeit nachher“ bezeichnet hatte. Noch gilt für ihn das Paradox vom „wandlosen Gefäß“, der Zwiespalt zwischen Erkenntnis der Endlichkeit und der Sehnsucht nach Ewigkeit.
Zwei Tage vor seinem Tod schreibt Ernst Meister sein Gedicht von einer – wie mir scheint – fast kindlichen Einfachheit: „O BLUMEN!/ Hier auf dem Balkon/ seh ich euch stehn/ im Sonnenlicht/ das lösliche Gewölbe.// Ihr andern auch/seid gegenwärtig.“
„Ich bleibe also dabei, dass das Menschendasein
ein unwahrscheinlich riskantes, aber dann eben doch
letzten Endes durch Sprache auszudrückendes Abenteuer ist“
Erstmals hat man hier – ausgenommen in manchen seiner Liebesgedichte – den Eindruck, dass sich für ihn in einer Hinwendung zu denen oder dem, was ihm gegenwärtig ist wie die Blumen vor seinen Augen, durch die bewusste sinnliche Wahrnehmung der Schönheit der Schöpfung (Blume, Sonnenlicht, lösliches Gewölbe) etwas auftut, was man als Befreiung oder Erlösung bezeichnen könnte. Seine lebenslange Qual, sein Gram über die Vergänglichkeit, das Sterben, den Tod, das erinnerungslose Auslöschen scheint in diesen letzten Versen in einer wunderbaren Leichtigkeit aufgehoben.
Ernst Meister starb am 15. Juni 1979 in seiner Heimatstadt. Posthum wurde ihm im selben Jahr für sein lyrisches Werk der Georg-Büchner-Preis verliehen, Die letzte von ihm verbürgte Aussage lautet: „Ich bleibe also dabei, dass das Menschendasein ein unwahrscheinlich riskantes, aber dann eben doch letzten Endes durch Sprache auszudrückendes Abenteuer ist.“
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