Der Seitenwechsel

Vor 25 Jahren forderte der Dichter und Dramatiker Botho Strauß den links- liberalen Kulturbetrieb heraus. Von Ulrich Schacht
Ram as an Aries sign
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Wer „Bocksgesang“ sagt, muss auch „Tragödie“ sagen! So deuteten die Feuilleton-Exegeten im Februar 1993 den rhetorisch scheinbar elitären, mit griechischen Mythen spielenden Titel eines langen Essays namens „Anschwellender Bocksgesang“ des Dramatikers, Erzählers und Essayisten Botho Strauß. Der war zugleich nicht im publizistischen Abseits erschienen, sondern im „Spiegel“, dem Hamburger Wochenmagazin, das zu diesem Zeitpunkt noch gut war für derartige Überraschungen. Doch die semantische Irritationssekunde, die zunächst nur nach philologischer Expertise schrie, verwandelte sich rasend schnell in einen im Prinzip bis heute anhaltenden hysterischen Dauerkommentar, war der Büchner-Preisträger Strauß doch nicht nur eine erstrangige Größe im (west)deutschen Kulturbetrieb, Abteilung Theater und Literatur, gewesen. Mit seinem Text zielte er tatsächlich auf eine Tragödie: allerdings nicht in grauer Vorzeit, irgendwo am Peleponnes. Vielmehr ortete er sie, als unaufhaltsam herannahendes Ereignis, mitten in der Gegenwart, quasi vor der bundesrepublikanischen Haustür, wenn nicht schon im Flur und den Räumen dahinter.

Hatte er bis dahin, neben stilmarkanten erzählten Romanen, vor allem Theater gemacht, in dem man sich, ironiefähig, wie man war, als Teil des Vorgeführten genüsslich-schaudernd spiegeln konnte, machte der Mann plötzlich auf andere dramatische Art und Weise ernst: Die Bühne, auf der er seinen scheinbar neuesten Stoff zu Sprache brachte, war eine medienpolitische Arena ersten Ranges. Den Stoff selbst aber, den er ausbreitete, hatte er einem realpolitischen wie kulturellen Zerstörungs- und Selbstzerstörungsprozess entnommen, an dem das Establishment, das bis eben noch zur getreuen Zuschauer- und Akklamationsgarde des Autors gehört hatte, genuin beteiligt war. Insofern war diese Aufführung nicht nur nicht mehr amüsant, sie war ein demaskierender Totalaffront gegen sein Publikum im bundesdeutschen Gesellschaftssaal, wurde es mit ihr doch vorgeführt als das, was es offenbar tatsächlich war: zutiefst ordnungsdestruktiv, traditionsfeindlich, geschichtsnegativ und kulturvergessen, ebenso glaubensfern und alles Deutsche verachtend, alles Fremde aber bejubelnd.

In der politischen Summe des Textes überführte Strauß damit sein intellektuelles Publikum vor allem linksliberaler Konfession einer hochgradigen sozialmentalen Autoimmunerkrankung, deren Infektionsherd er im Diabolos aus Braunau sah, wie schon Sebastian Haffner am Schluss seiner berühmten „Anmerkungen zu Hitler“ aus dem Jahre 1981, wenn er den politischen Aberglauben der Nachkriegs-Deutschen, dass die deutsche Geschichte mit Hitler zu Ende gegangen wäre, mit den Worten zurückweist: Wer das glaube und sich womöglich darüber freue, wisse „gar nicht, wie sehr er damit Hitlers letzten Willen“ erfülle.

Doch selbst solch niederschmetternde Zeitdiagnose einer sich hypermoralisch aufspielenden Generation von nachgeholtem Aufklärertum machte den kollektiven Hass-Tsunami, der nun losbrach, trotz einzelner Gegenstimmen nicht in dem Maße erklärbar, wie man denken mochte. Es war etwas ganz und gar anderes, quasi das moralisch Letzte an möglicher politischer, geschweige denn kultureller Gegen-Konfession: Der Dichter Botho Strauß hatte nicht nur schonungslos Kritik geübt am kulturhegemonialen und damit machtaffinen inner circle als pseudokritisch agierendem Teil desselben. Er hatte ihn, den bombensicheren Standort im kulturellen Nachkriegsdeutschland, mit einem unüberhörbaren, echostarken Knall der eisernen Ein- und Ausgangstür zu einer geschlossenen Gesellschaft verlassen, deren Weltoffenheitspostulat Teil jener linken ideologischen „Vernunft“ war.

Strauß hatte damit nicht nur einfach die Seiten, er war ins schlimmstmögliche Lager gewechselt, indem er bekannte, „Rechts zu sein, nicht aus billiger Überzeugung, aus gemeinen Absichten, sondern von ganzem Wesen“. Bedeute das doch, „die Übermacht einer Erinnerung zu erleben, die den Menschen ergreift, weniger den Staatsbürger, die ihn vereinsamt und erschüttert inmitten der modernen, aufgeklärten Verhältnisse“. Es handele sich „um einen anderen Akt der Auflehnung gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will. Anders als die linke, Heilsgeschichte parodierende Phantasie“ male sich „die rechte kein künftiges Weltreich aus“, bedürfe sie „keiner Utopie“, sondern suche „den Wiederanschluss an die lange Zeit, die unbewegte“, die „ihrem Wesen nach Tiefen- erinnerung“ sei und „insofern eine religiöse oder protopolitische Initiation“. Diese Rechte sei vom Neonazi „so weit entfernt wie der Fußballfreund vom Hooligan“.

Strauß hatte damit ins Deutsche übertragen, was Camus schon in den fünfziger Jahren verkündet hatte nach den hasserfüllten Angriffen der stalinistischen französischen Linken einschließlich Sartres, gegen sein philosophisches Hauptwerk „Der Mensch in der Revolte“, den radikalen Seitenwechsel-Konjunktiv nämlich, den Camus nicht nur theoretisch für möglich hielt: „Wenn die Wahrheit rechts wäre, wäre ich rechts.“ Im Anschluss an solche Positionierung, die einer Kriegserklärung gleichkam, demontierte Strauß seine Gegner, die „gewitzten und zerknirschten Gewissenswächter“, auch gleich noch haltungsmoralisch, indem er ihnen zwar einen „aufrechten Gang“ konzedierte, im Wesentlichen aber nur, „um zum nächsten Mikrophon oder Podium zu schreiten“. Mit diesem Blickwinkel hatte er zugleich sein Schlaglicht auf jenen gesellschaftlichen Machtbereich gerichtet, der heute weitaus umfassender seine Herrschaft entfaltet, als es zum Zeitpunkt des Erscheinens des „Bocksgesangs“ vorstellbar war: Insofern er in Gestalt des öffentlich-rechtlichen Medienkomplexes, inzwischen finanziell durch eine „Demokratieabgabe“ genannte Zwangsgebühr abgesichert, nicht mehr nur bloß Massenverdummung im Rahmen „elektronischen Schaugewerbes“ betreibt oder pures „Infotainment“ wie auf den privaten Kanälen.

Heute sehen wir, vor allem in ARD, ZDF und den 3. Programmen, in Magazinen wie Kulturzeit oder in den Fronttheater-Einsätzen der mobilen Satirekompanie, immer stärker einen parteilichen Journalismus am Werk. Wer bislang glaubte, dieses Modell sei nur in dezidiert kommunistischen Gesellschaften umsetzbar, weiß heute, dass es auch unter Bedingungen funktioniert, die sich „pluralistisch“ und „demokratisch“ nennen, „rechtsstaatlich“ und „liberal“, mit den Worten von Strauß: „Das Regime der telekratischen Öffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte ... Es kennt nur Mitwirkende, Systemkonforme.“

Das ist vor einem Vierteljahrhundert gesagt worden und mochte damals noch, selbst dem prinzipiell Zustimmenden, übertrieben klingen. Heute aber beschreibt es präzise den Dauerzustand, zu dem der öffentlich-rechtliche mediale Sektor geronnen ist, geht es um Nachrichten, Kommentare, Informationen, um Krimiserien, Kindersendungen, Talkshows – kein Sendeformat scheint mehr frei zu sein von Manipulationsviren, bis hin zu offener Hetze gegen zu Feinden erklärten Zeitgenossen, ob in- oder ausländische Politiker, Künstler oder normaler bürgerlicher Kritiker der Gesellschaftsverhältnisse.

Bei manchen Nachrichtensendungen wirkt der Moderationsstil zunehmend feindlich und aggressiv. Mit fanatischem Blick wird vorgeführt, überführt, vernichtet. Manche Moderatorinnen und Moderatoren treten auf wie Ermittler, Ankläger und Richter in einem – selbstverständlich aber immer im Auftrag des angeblich Guten, Schönen und Wahren. Veranstalten sie eine Talkshow zum Schein von freiem Diskurs, kann der eingeladene Abweichler wie ein Opfer im Löwenkäfig von beißwütigen „Mitdiskutanten“ umstellt werden. Am Ende sind sämtliche Argumente, die er vorbringt, quasi eine zerfleischte Masse.

Neulich war dies beispielsweise in einer Talkshow von Sandra Maischberger zu erleben, als sie auf den frischgebackenen österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz, ohne höheren Anlass, aber aus niederem Grund, den in grüner Tarnfarbe agierenden Altmaoisten Jürgen Trittin losließ, um Kurz mit vollkommen abstrusen Vorwürfen als Koalitionär von Rechtsradikalen zu diskreditieren. Empfängt sie dagegen Bundeskanzlerin Angela Merkel, empfängt sie, in Ton und Haltung, eine Art politische Mutter Teresa. Kritische Fragen zum Rechtsbruchkomplex „Grenzöffnung“ und den immer zahlreicher werdenden Opfern dieses Rechtsbruchs unterbleiben nicht nur; beides wird mit höherer Moral wegdefiniert.

Der Essay „Anschwellender Bocksgesang“ endet mit den Worten: „Die Wirklichkeit blutet wirklich jetzt.“ Aber selbst Botho Strauß konnte nicht ahnen, wie erschreckend genau er damit unsere Gegenwart in Worte fasste, die damals noch Zukunft war.

Am 27. März 2018 erscheint „Der Fortführer“, das neue Buch von Botho Strauß, im Rowohlt Verlag.
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