Wie klein sich doch dieser „Digitalpakt“ ausnimmt. Da wird jahrelang gestritten, ob es ihn geben darf, und dann gebiert der Berg ein Mäuschen. Fünf Milliarden für fünf Jahre für 42 000 Schulen in Deutschland. Im Schnitt sind das pro Jahr und Schule rund 23 000 Euro. Das soll digitale Zukunft qua Schule sein? Nein, sie wird es nicht sein, und das ist gut so. Unsere Kinder brauchen keinen digitalen Nürnberger Trichter. Sonst werden aus „digital natives“ digitale Naivlinge.
Weltweit gibt es auch keine einzige Untersuchung, die digitalisiertem Lernen einen Vorteil einräumen würde. Vorteile hat nur die IT-Industrie. Ansonsten beschleicht einen eher das Gefühl, dass „moderne“ Bildungspolitik vom eigenen Versagen ablenken will, nämlich von einer Gefälligkeitspädagogik, mit der Bildungsqualität und Abiturquoten immer mehr in ein reziprokes Verhältnis gerieten.
Überhaupt, was soll diese Hyperventilation um: just-in-time- und download-knowledge, instant-learning, Multimedia-Learning, Online-learning, virtuelles Klassenzimmer? Bewegen müsste Pädagogen etwas anderes, vor allem die Frage, ob der junge oder WLAN-mäßig vernetzte Multimedia-Mensch ab einem gewissen Stadium des Informationskonsums überhaupt noch die Fähigkeit besitzt, zwischen faktischer Realität und virtueller, medialer Realität zu unterscheiden oder ob er nicht bereits einer höchst selektiven „Windowisierung“ von Wirklichkeit ausgesetzt ist. Ein Günther Anders (+1992) würde mit Blick auf die digitalen Medien eindringlich vor einer Ikonomanie, vor einer Bildsucht, warnen. Diese Warnung präzisierte Günther Anders in seiner Essaysammlung „Die Antiquiertheit des Menschen“ von 1956 beziehungsweise 1980: Es trieb ihn die Sorge um: „Alles Wirkliche wird phantomhaft, alles Fiktive wird wirklich.“
Junge Menschen dürfen nicht zu Infokraten werden, die von Häppchen-Information beherrscht werden, sondern die Kommunikation als etwas Menschliches und nicht als etwas Technisches erfahren. Damit wäre man bei einem Punkt angekommen, wo Information Kommunikation tötet, weil sich jeder nur noch das an Information sucht, was er braucht, und nur noch darüber redet. Die Überwältigung der Wahrnehmung und des Denkens durch Informationsfluten sowie die medial bedingte Isolation könnten außerdem dazu führen, dass Kinder, wie ebenfalls Günther Anders lange vor der Digitalisierungswelle feststellte, zu kollektiv vereinzelten Massen-Eremiten werden.
Gewiss gehört zur Medienerziehung die Schulung im Umgang mit Computer beziehungsweise Internet. Dazu gehört eine Aufklärung über „Risk and Fun im Netz“. Vor allem gehört dazu, dass die jungen Nutzer hinter die Bildschirmoberfläche schauen, zum Beispiel, wer die Nutznießer der Computerisierung sind: die Sammler von persönlichen Daten wie Google, Amazon, Facebook und so weiter. Es gehören zu dieser Art von Mündigkeit die Fähigkeit, sinnentnehmend zu lesen; die Fähigkeit, differenziert und verständlich zu schreiben; die Fähigkeit, zielführend Strategien bei der Suche nach Informationen einzusetzen und die Fähigkeit, beim Gefundenen Wichtiges von Unwichtigem sowie Sinnvolles von Schrott inklusive sexualisierter medialer Gewalt zu unterscheiden.
„Digitalisierte“ Bildung vor allem via Internet fördert zudem die Haltung, Lernen könne ständig Spaß und Animation sein. Die Folgen sind Konzentrationsmängel. Solche Kollateralschäden sind umso gravierender, je früher dieser Einsatz beginnt. Der 2011 verstorbene Apple-CEO Steve Jobs und Microsoft-Gründer Bill Gates wussten sehr wohl, warum sie ihren Kindern iPads und Smartphones vorenthielten.
Und noch etwas: Erst im Mai 2017 hat die Suchtbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler, eine Studie vorgestellt, in die 80 Kinderärzte ihre Erfahrungen mit dem Medienkonsum von 6 000 Kindern einbrachten. Eines der Ergebnisse lautet, dass jeder sechste Jugendliche sogar nach eigener Einschätzung Probleme hat, seinen digitalen Medienkonsum selbstbestimmt zu kontrollieren, und dass davon ein Teil therapiebedürftig ist. Digitalisierte Schule muss dieser Entwicklung nicht auch noch Vorschub leisten.
Der Autor ist ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.