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Der moralische Horizont wird uferlos und bietet keinen Halt

Liebe Deinen Nächsten! Längst ist dieser Grundsatz einer pseudomoralischen Forderung nach Zuwendung an die Übernächsten gewichen. Das kann nur im Unglück enden.
Norbert Bolz
Foto: Kathrin Harms | Norbert Bolz ist Philosoph und Medienexperte.

Moral ist ein Nahsinn. Im Umgang mit den Mitgliedern der eigenen Familie gibt es im Allgemeinen keine moralischen Probleme. Schwieriger wird es schon bei der Frage nach den Verpflichtungen, die man Freunden und Bekannten gegenüber hat. Und bin ich bereit, überhaupt irgendetwas für mein Vaterland zu opfern? Ein Christ kann sich bei der Frage nach dem Grundgesetz der Moral ja an das Gebot der Nächstenliebe halten. Liebe deinen Nächsten. Aber wer ist mein Nächster? Hier gibt es zwei höchst unterschiedliche Antworten, die von zwei höchst interessanten Gestalten verkörpert werden, nämlich vom guten Samariter und Mrs. Jellyby.

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Jeder Leser dieser Zeitung kennt natürlich den guten Samariter. Er trifft auf einen hilfsbedürftigen Fremden, sorgt sehr konkret und handfest für ihn und geht dann wieder seiner Wege. Mrs. Jellyby ist eine Figur aus Charles Dickens’ großem Roman Bleak House. Im Unterschied zur Nächstenliebe des guten Samariters – und es ist dieser Unterschied, den die Gutmenschen von heute nicht begreifen – ist die Menschenfreundlichkeit von Mrs. Jellyby „teleskopisch“. Teleskopische Philanthropie – das ist der wunderbar präzise Ausdruck von Dickens für eine Frau, die ihr ganzes Leben dem öffentlichen Engagement für die guten Werke ihres Afrika-Projekts widmet und dafür alle vernachlässigt, die ihr nahe sind – ihre Kinder, ihren Haushalt, ja sich selbst. Dickens sagt sehr schön: Sie konnte nichts sehen, was näher war als Afrika. Ihr Dauerthema war die Bruderschaft der Menschheit.

Fern-Ethik statt echter Nächstenliebe

Wie konnte es zum Wandel von der Nächstenliebe zur Fernethik kommen? Der Kult der Menschheit harmoniert sehr gut mit den bekannten Tendenzen zur One World: wirtschaftliche Globalisierung, medientechnische Weltgesellschaft. Die Anderen sind uns vertrauter und die Brüder fremder geworden. Benjamin Nelson hat das auf die lapidare Formel gebracht: Im modernen Kapitalismus sind alle Brüder, indem sie alle gleichermaßen Andere geworden sind. Es gibt nun keinen Unterschied mehr zwischen Binnenmoral und Außenmoral.

Deshalb unterscheidet unsere Kanzlerin auch nicht mehr zwischen Deutschen und Migranten, sondern nur noch zwischen denen, die schon länger hier wohnen, und neu Hinzugekommenen. Die Pathosformeln dafür lauteten dann: Refugees welcome! Wir schaffen das! Wir haben Platz! Es handelt sich hier um eine unbegrenzte moralische Horizonterweiterung. Die ganze Menschheit ist jetzt Subjekt der Ethik. Doch warum hier stehen bleiben? Konsequent gehen einige Aktivisten noch weiter und fordern zum Beispiel Menschenrechte für Menschenaffen.

Grüner Gaia-Kult: Anleitung zum Unglücklichsein

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Der Grenzwert dieser Allmoral wäre die Biophilie, die Liebe zum Lebendigen an sich. Im grünen Zeitalter ist denn auch der Gaia-Kult wiedererwacht, die Feier der Erde als mit allen Mitteln zu schützendes Lebewesen. Wenn man sich nun aber erinnert, dass Moral eigentlich ein Nahsinn ist, wird sofort klar, dass die guten Menschen sich hier selbst überfordern. Und das Ergebnis dieser permanenten Selbstüberforderung kann natürlich nur ein ständig anwachsendes Schuldgefühl sein. Die Allmoral ist also eine Anleitung zum Unglücklichsein.

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