Der katholische Genuss

Manche Leute verbinden mit der Kirche einen Lebensstil, der ziemlich langweilig oder sogar lustfeindlich ist. Alles Unsinn. Wer auch schon das irdische Leben genießen will, ist beim Katholizismus genau richtig. Von Stefan Ahrens
Whisky als Sinnbild für Gottes schöne Schöpfung
Foto: dpa | Der Whisky als Sinnbild für Gottes schöne Schöpfung: Genauso wie bei ihm bedarf es auch beim Menschen der längeren inneren Reifung, damit sich alle Tugenden und guten Eigenschaften vollkommen entfalten können.

Das Leben zu genießen – eine verlockende, geradezu verführerische Vorstellung! „Und das ist auch gut so“ – um die Worte eines früheren (übrigens katholischen) Berliner Oberbürgermeisters zu zitieren, dem man einen grundsätzlichen Hang zur Genussfreundlichkeit beim besten Willen nicht absprechen kann.

Denn zu genießen (wie Immanuel Kant im berühmten „Deutschen Wörterbuch“ der Brüder Grimm zitiert wird: „Genieszen ist das Wort, womit man das innige des Vergnügens bezeichnet“) scheint nicht nur Vordenkern des antiken und modernen Hedonismus wie Epikur, Julien Offray de La Mettrie oder Jeremy Bentham ein Anliegen gewesen zu sein. Ohne gleich von einer angeborenen Genussfähigkeit des Menschen sprechen zu wollen, bedarf es keines promovierten Soziologen um festzustellen, dass Menschen zu allen Zeiten das Bedürfnis verspürt haben, einen oder mehrere ihrer Sinne positiven Empfindungen auszusetzen – die dann auch zumeist mit körperlichem und/oder geistigem Wohlbehagen verbunden sind. Egal, ob es sich hierbei um kulinarische (wie hochwertiges Essen und Trinken), geistige (wie das Hören von Musik oder das Lesen eines anregenden Buches) oder körperliche Genüsse (beispielsweise tiefenentspannende Massagen oder erfüllende Sexualität) handelt – die Anzahl derer, die noch nie einen dieser Genüsse erfahren oder danach gestrebt haben, dürfte verschwindend gering sein.

Gerade das katholische Christentum – dem ja vor allem in heutiger Zeit soviel Genuss-, Leib- und Sexualfeindlichkeit vorgeworfen wird – erwies sich hierbei in seiner Historie stets als Förderer eines positiven, moderaten Genussverhaltens. Woran das liegt? Vielleicht hatte Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. hierauf unbewusst die richtige Antwort parat, als er im Interviewbuch „Gott und die Welt“ (erschienen 2000) auf die Behauptung des Journalisten Peter Seewald, dass den Katholiken nachgesagt werde, dass diese voller Schuldgefühle gegenüber Gott seien, entgegnete, dass Katholiken „vor allem von einem großen Gefühl der Vergebung Gottes beseelt sind. Nehmen wir die Kunst des Barock oder des Rokoko. Hier sieht man große Heiterkeit. So typischen katholischen Nationen wie Italien oder Spanien wird nicht ohne Grund eine innere Leichtigkeit nachgesagt.“

Wer einmal seinen Urlaub in diesen oder anderen katholisch geprägten Ländern verbracht hat – schon ein Blick hinter die bayerische Landesgrenze oder ein Besuch im Rheinland mag hierbei genügen – wird diese Aussage Ratzingers als genau die Selbstverständlichkeit betrachten, die sie ist. Das Bewusstsein, aus der Gnade Gottes heraus zu leben; zu wissen, dass „alles in Ordnung ist, obwohl nichts in Ordnung ist“ (Anthony de Mello SJ) half dabei, aus dem Katholizismus heraus eine Kultur des „leben und leben lassens“ entstehen zu lassen, in der Lebensfreude, Gastfreundschaft und ein am benediktinischen „ora et labora et legere“ geschulten „gesunden Maß“ zwischen Gebet, Arbeit und Muße die markantesten Kennzeichen sind. In dieser vom Katholizismus geprägten Kultur war es auch möglich, großzügig dasjenige zu integrieren, was sich zwar außerhalb der christlichen Religion entwickelt hatte, aber dennoch als wahr, gut und schön betrachtet werden konnte – an ein Abwürgen außerchristlicher Errungenschaften (wie es in manch anderer Religion bis auf den heutigen Tag verbreitet ist) war im Katholizismus nicht zu denken.

In allem das Wahre, Gute und Schöne zu sehen sowie mit allen Sinnen zu genießen ist wahre „Katholizität“ – geistlich, geistig, seelisch, körperlich, kulinarisch. Wer also zu behaupten wagt, dass der Katholizismus eine grundsätzlich genussvolle Religion sei, ist vielleicht nicht ganz so weit von der Wahrheit entfernt.

Zugegeben: Die Betonung der Zusammengehörigkeit von Glaube und Genuss gehört gegenwärtig sicherlich nicht auf die oberste kirchliche Tagesordnung. Dennoch ist auch Papst Franziskus von dieser Thematik sicherlich nicht ganz unberührt, ist doch einer seiner Lieblingsfilme der Oscargekrönte dänische Spielfilm „Babettes Fest“ (1987), den er auch in seinem Schreiben „Amoris Laetitia“ erwähnt: „Versag dir nicht das Glück des Tages (…) Beschenk den Bruder und gönne auch dir etwas (Sir 14,14a.16a) … Man erinnere sich an die geglückte Szene in dem Film ,Babettes Fest', wo die großherzige Köchin eine dankerfüllte Umarmung und ein Lob empfängt: ,Wie wirst du die Engel ergötzen!' Süß und belebend ist die Freude, anderen Vergnügen zu bereiten und zu sehen, wie sie genießen.“ (Nr. 129) Und darüber hinaus gibt es einige katholische Laien und Priester – interessanterweise eher zum scheinbar konservativeren Spektrum der Kirche gehörend – die sich unaufgefordert für eine Wiedererinnerung an die Symbiose von Glaube und Genuss einsetzen und für einen „katholischen Lebensstil“ plädieren.

Fündig wird man beispielsweise auf amerikanischen und deutschsprachigen katholischen Blogs und Websites. Eine der ersten Websites, die sich für eine starke Verbindung von Glaube und Genuss stark gemacht hat, ist der 2013 von dem aus Milwaukee/Wisconsin stammenden US-Amerikaner Sam Guzman gegründete Blog „The Catholic Gentleman“ (www.catholicgentleman.com), der sich vor allem an junge katholische Männer richtet. Die Intention dieser Website (Motto: „Be a man. Be a saint.“) ist es, das Streben nach persönlicher Heiligkeit sowohl durch eine genuin katholische Spiritualität zu forcieren als dieses auch mit Stilbewusstsein und einem Sinn für Lebensqualität zu verbinden – der Autor und vierfache Familienvater Guzman geht hierbei mit gutem Beispiel voran, indem er einerseits täglich in der Bibel liest und die Lateinische Messe besucht, andererseits aber auch beispielsweise gerne Anzüge mit Fliege trägt, passionierter Pfeifenraucher ist und seltene Füllfederhalter sammelt. Vorbilder des von Guzman propagierten „Catholic Gentleman“ sind vor allem katholische Literaten aus dem angelsächsischen Raum wie Gilbert Keith Chesterton und J.R.R. Tolkien, denen das Zusammengehören von Glaube, Geist, Stilbewusstsein und Genuss nicht erst erklärt werden musste.

Auch im deutschsprachigem Raum gibt es seit einem Jahr einen Blog, der als „Onlinemagazin für katholische Lebensart“ (eigene Bezeichnung) die Verbindung von Glaube und Genuss betonen möchte. Die Rede ist von „The Cathwalk“ (www.thecathwalk.de/) zusammengesetzt aus den Wörtern „catholic“ (katholisch) und „catwalk“ (Laufsteg bei Modenschauen), der von dem Journalisten Matthias Jean-Marie Schäppi im Oktober 2015 gegründet wurde. Er und sein vierköpfiges Redaktionsteam plus Gastautoren widmen sich scheinbar äußerst unterschiedlichen Themenbereichen wie Spiritualität, Kunst und Kultur sowie Mode und Lifestyle – aber dieses aus einem guten Grund, wie es auf der Website selbst heißt: „Egal ob über aktuelle päpstliche Rundschreiben, moderne Sakralarchitektur oder die Fashion Week ... Wir wollen informieren und zum Denken anregen, darüber hinaus Christen und Sinnsuchende auf dem Weg zum ästhetisch-intellektuell-kulturellen Katholizismus unterstützen … Themengrenzen kennen wir nicht; katholisch heißt schließlich allumfassend. Wir prüfen alles und behalten das Gute.“

Doch nicht nur Laien im Internet sind hier als Teil einer regelrechten „Genussoffensive“ innerhalb der katholischen Kirche zu betrachten – auch einige engagierte Priester kennen keine Berührungsängste, sich mit dem scheinbar Profanen und Alltäglichen „abzugeben“ – um hierbei am Ende doch überraschenderweise zu glaubensvertiefenden Einsichten zu gelangen. Bestes Beispiel hierfür ist Wolfgang F. Rothe, Priester und Seelsorger im Erzbistum München und Freising. Dieser ist nicht nur promovierter Theologe und Kirchenrechtler, sondern außerdem einer der größten Whiskyexperten Deutschlands. Bei Fachmessen und in Fachpublikationen ist er mit seinen Ansichten vertreten und wird aufgrund seines Expertenwissens von den (zumeist säkularen) Kollegen anerkennend „Whisky-Vikar“ genannt.

Seine Ansichten zum Thema „Glaube und Genuss“ hat er in einem äußerst lesenswerten Buch zusammengefasst: „Wasser des Lebens – Einführung in die Spiritualität des Whiskys“ (EOS-Verlag, 2016). Rothe nimmt in diesem Buch seine Leser mit auf eine Reise zu den Ursprüngen des Whiskys (die übrigens im iroschottischen Mönchtum liegen und somit den Whisky als ein genuin „katholisches“ Genussmittel offenbaren) und vermittelt Einblicke in dessen Geschichte, Herstellung, seine verschiedenen Arten und grundlegende Tipps zur (maßvollen) Verkostung. Doch Wolfgang F. Rothe spannt außerdem einen gekonnten Bogen vom maßvollen Whiskygenuss hin zu einer lebensfreundlichen Spiritualität: Denn der Genuss des Whiskys mit allen Sinnen wird bei ihm nicht nur äußerst anschaulich zu einem zeremoniellen, fast meditativen und sakralen Erlebnis, sondern auch zu einem Plädoyer für Achtsamkeit und maßvollen (Lebens-)Genuss.

Genauso wie bei einem guten Whisky bedarf es nämlich laut Rothe auch beim Menschen der längeren inneren Reifung, damit sich alle Tugenden und guten Eigenschaften vollkommen entfalten können. Der Whisky als Sinnbild für Gottes schöne Schöpfung einerseits und als Vorbild für menschliche Achtsamkeit und maßvolles Leben andererseits – dies vermittelt der „Whisky-Vikar“ Rothe seinen Lesern in „Wasser des Lebens“ glaubwürdig und überaus ansteckend.

„Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt“, sagte Joseph Ratzinger einmal. Auch Genuss muss, wie gesehen werden konnte, einer Gotteserfahrung nicht unbedingt abträglich sein. Denn schließlich (so wird es in der Verheißung des „himmlischen Hochzeitsmahls“ deutlich) ist der christliche Gott selbst ein „Gott zum Genießen“ – und das nicht erst in der Ewigkeit.

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