Kultur

Der hessische Lehrplan zur Sexualerziehung ist verfassungswidrig

Beim Demo-für-Alle-Symposium in Wiesbaden wurden Alternativen zur „Sexualpädagogik der Vielfalt“ vorgestellt. Von Sebastian Krockenberger
Die Organisatorin, Hedwig von Beverfoerde, will die Impulse des Symposiums auch umsetzen.
Foto: Krockenberger | Die Organisatorin, Hedwig von Beverfoerde, will die Impulse des Symposiums auch umsetzen.

Viel Wirbel gab es im Vorfeld des Demo-für-Alle-Symposiums am 6. Mai 2017 in Wiesbaden. Die Grünen hatten im Hessischen Landtag eine aktuelle Debatte beantragt. Der Wiesbadener Oberbürgermeister Sven Gerich (SPD) hatte zur Teilnahme an einer Gegendemonstration vor dem Kurhaus aufgerufen. Tausende Gegendemonstranten wurden erwartet, nach Angaben der Polizei sind dann nur rund 300 Personen dem Aufruf gefolgt.

In einer Nacht- und Nebelaktion hatte im August 2016 Kultusminister Professor Alexander Lorz (CDU) einen neuen Lehrplan zur Sexualerziehung an den hessischen Schulen erlassen, der auf die „Akzeptanz verschiedener sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten“ abzielt. Doch nicht nur in Hessen, auch in den anderen Bundesländern gibt es zurzeit Bestrebungen, die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ an den Schulen zu etablieren. Im Kurhaus in Wiesbaden sollten deshalb vor rund 400 Tagungsteilnehmern Hintergründe erörtert werden.

Der Verfassungsrechtler Professor Christian Winterhoff setzte sich mit der Abgrenzung von Toleranz und Akzeptanz auseinander. Akzeptieren bedeute laut Duden „etwas positiv anzunehmen oder zu billigen“. Jemand erkennt etwas an oder ist mit etwas einverstanden. Tolerieren hingegen heiße dulden, zulassen, etwas für sich gelten lassen, auch wenn es nicht den eigenen Vorstellungen entspricht.

Im Lehrplan Sexualerziehung für allgemeinbildende und berufliche Schulen in Hessen steht: „Gegenstand der Sexualerziehung in Schulen soll die Vermittlung von Wissen über die Existenz unterschiedlicher Partnerschaftsformen und Verständnisse von Familie, sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten und deren Akzeptanz sein.“ Dies unterzog Professor Winterhoff einer rechtlichen Prüfung.

Das Grundgesetz schreibt in Artikel 6 fest: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Die Eltern dürfen folglich ihre Kinder „nach eigenen sexualethischen Wertvorstellungen“ erziehen. Es gäbe zwar eine „gemeinsame Erziehungsaufgabe von Eltern und Schule“, doch wie zum Beispiel 2007 das Oberverwaltungsgericht Münster Urteil feststellte, bestehe ein „Vorrang des elterlichen Erziehungsrechts im Bereich der Sexualerziehung“. Der Staat muss den „Gesamtplan der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder“ beachten und hat „Zurückhaltung und Toleranz gegenüber den erzieherischen Vorstellungen der Eltern“ zu üben. Das Bundesverwaltungsgericht beschloss 2008: „Eine Sexualerziehung, die jede Art sexuellen Verhaltens gleichermaßen bejahen oder gar befürworten würde, verstieße (…) eindeutig gegen das Zurückhaltungs- und Rücksichtnahmegebot.“

Darüber hinaus verweist Winterhoff auf das Hessische Schulgesetz, das als Bildungsziel die Befähigung der Schüler, festlegt, „die Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Achtung und Toleranz (…) zu gestalten“. Er betont, dass damit nicht die Akzeptanz anderer Menschen und ihrer Verhaltensweisen gemeint sei.

In § 7 des Schulgesetzes steht: „Bei der Sexualerziehung ist Zurückhaltung zu wahren sowie Offenheit und Toleranz gegenüber den verschiedenen Wertvorstellungen in diesem Bereich zu beachten; jede einseitige Beeinflussung ist zu vermeiden.“ Vor diesem Hintergrund wertet Winterhoff die Akzeptanzvermittlung durch den Lehrplan Sexualerziehung als Verstoß gegen Grundgesetz und Hessisches Schulgesetz. Toleranzvermittlung hingegen wäre verfassungskonform. Für Eltern bestehen nun Möglichkeiten, sich rechtlich zu wehren. Zuerst können sie ihr Informationsrecht gegenüber der Schule geltend machen, so Winterhoff. Liegen besondere Gründe vor wie eben die Akzeptanzvermittlung, können sie die Beurlaubung ihrer Kinder von der Schule beantragen. Wird die Beurlaubung verweigert, können sie Widerspruch und Klage einlegen.

Die sexuelle Utopie des Helmut Kentler

Die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ ist wesentliches Element der „Sexualpädagogik der Vielfalt“. Für diese war der Sexualpädagoge Helmut Kentler (1928–2008) mit seiner „emanzipierenden Sexualerziehung“ eine Art Vordenker. Die Politikwissenschaftlerin Teresa Nentwig vom Göttinger Institut für Demokratieforschung stellte Kentlers Grundgedanken vor. Sie legte 2016 den Bericht zu Kentlers Experimenten in Berlin vor, als dieser im Auftrag der Senatsverwaltung obdachlose Jugendliche bei Pädophilen unterbrachte.

Nach Kentler ist Sexualität eine Grundfähigkeit des Menschen, die von Geburt an gefördert werden müsse. Neben der Fortpflanzung steht der Lustgewinnung im Mittelpunkt. Bei der Sexualerziehung müsse das gegenwärtige Glück der Heranwachsenden im Mittelpunkt stehen. Kentler behauptet, dass das gegenwärtige Glück nicht für ein künftiges geopfert werden dürfe. Sexualerziehung soll den Heranwachsenden ein selbstständiges Sexualleben ermöglichen. Und schließlich ist für Kentler Sexualerziehung zugleich politische Erziehung. Er spannte den Sexualerzieher für gesellschaftsreformatorische Zwecke ein. Dabei war er von neomarxistischen Autoren wie Wilhelm Reich (1897–1957) und Herbert Marcuse (1878–1979) beeinflusst. Von Reich hat Kentler den Gedanken aufgegriffen, dass die bürgerliche Sexualmoral ein Instrument kapitalistischer Herrschaftssicherung wäre. Deshalb wäre die sexuelle Befreiung die Voraussetzung für die gesellschaftliche Befreiung.

Der Sexualwissenschaftler Professor Jakob Pastötter beklagte, dass es Kentler und seinem Schüler Professor Uwe Sielert gelungen sei, ihre Sicht der Dinge unangreifbar zu machen, und sagte: „Es kann und darf … nicht sein, dass es nur eine Sicht der Dinge gibt.“ Kentlers Hypothese, dass für Kinder von Geburt an Sexualität eine zentrale Bedeutung habe, griff er scharf an und bemängelte die geringe wissenschaftliche Untermauerung. „Wenn die Faktenlage so dünn ist, dann darf ich nicht von Kindersexualität reden“, stellte Pastötter fest.

Er bezeichnete die Vorstellung, dass Sexualität eine Lebensenergie wäre, als naiv, denn es gibt zahlreiche andere Dimensionen wie Kultur, Persönlichkeit oder Gesellschaft. Kentler hatte das Konzept von Reich. Auch die Hypothese einer „psychosexuellen Entwicklung“ sei unhaltbar. Ziel muss es hingegen sein, eine Art „Burgfrieden mit der Sexualität zu finden“. Ein „Gebot der Achtsamkeit und der Verantwortung im Umgang mit sich und anderen“ müsse maßgeblich sein.

Der Arzt, Psychiater und Psychotherapeut Christian Spaemann erklärte in einem Video-Beitrag „Angesichts der Empfindlichkeit der Kinder gegenüber sexuellen Übergriffen auch von Gleichaltrigen erscheint es berechtigt und nachvollziehbar, gewisse Praktiken der gegenwärtigen Sexualerziehung selbst als grenzüberschreitend und missbräuchlich anzusehen. Die Zeugnisse der Eltern über die Äußerungen ihrer Kinder nach solchen Unterrichtseinheiten sind erschütternd.“ Die eindeutigen Bilder aus dem Aufklärungsbuch „Lisa und Jan“ des einflussreichen Sexualpädagogen Sielert nannte er als Beispiel.

Aktuell werde die Sexualpädagogik der Vielfalt als wirksames Mittel zur Missbrauchsprävention propagiert. Doch mit den Grundsätzen von Autonomie und Selbstbestimmung überfordert sie die Kinder, stattdessen müsse die Aufsichtspflicht und Verantwortlichkeit der Erwachsenen, insbesondere der Eltern gestärkt werden.

Der Vortrag des Philosophen Professor Harald Seubert setzte schon zu Beginn des Symposiums einen geistigen Rahmen, der die Einordnung der Zusammenhänge ermöglicht. Seubert sieht durch die Sexualpädagogik der Vielfalt eine große Gefährdung der Menschenwürde in der Kinder- und Jugendzeit. „Am Beginn und seit Beginn der griechischen Philosophie ist Scham und Scheu ein Grundelement, das Pädagogik, Erziehung prägen soll und muss.“

Die Würde des Menschen sei laut dem Philosophen Robert Spaemann nicht einfach eine Eigenschaft, sie käme dem Menschen als Menschen zu. Diese Würde kann dem Menschen auch nicht in Krankheit oder Alter abgesprochen werden. Der Mensch ist ein „alter Deus“, ein anderer Gott, doch nur solange als er sich in Gott gegründet weiß.

Die Menschenwürde-Philosophie Immanuel Kants sei bei der Verfassung des Grundgesetzes Grundkonsens gewesen, so Seubert. Denn sie ist eine tiefste Menschenwürde-Philosophie, die auch für Nicht-Glaubende verstehbar sei. „Für Kant ist die Freiheit gebunden an die Würde. Und Kant hat betont, dass die Würde nicht ein Wert ist.“ Denn der Wert ist eine ökonomische Kategorie, die Menschenwürde kann aber nicht ökonomisch bewertet werden. Der Mensch existiert jedoch als Zweck an sich selber. Seubert bezeichnete es als „ungeheures Skandalon, wenn Lebensschützer und Vertreter dieser Würde in der Pädagogik in die Nähe von rechtsradikalem Gedankengut gebracht werden.“

In den Vorträgen des Symposiums wurde der neomarxistische Hintergrund Kentlers deutlich. Er wirkte aktiv in der 68er-Bewegung mit und war vom Denken der Frankfurter Schule tief geprägt. Er wollte durch eine emanzipatorische Sexualpädagogik von den Zwängen einer kapitalistischen Konsumgesellschaft befreien. Doch heute führt die vorherrschende Sexualpädagogik gerade dazu, dass Sex leichter konsumiert und kommerzialisiert wird. Kentlers sexuelle Utopie war einer soziale Utopie, deren Scheitern an den vielen Scheidungen, an der Zunahme der Prostitution, am weit verbreiteten Pornographie-Konsum und an der Bindungsunfähigkeit vieler Menschen mittlerweile deutlich sichtbar wird.

Dass es Alternativen zur Sexualpädagogik der Vielfalt gibt, wurde bei der Vorstellung der Programme „Teen Star“ und „Fit for Love“, sowie des Studiengangs „Leib – Bindung – Identität“ deutlich. Teen Star bietet Beratung und Kurse an. Den Jugendlichen soll die Bedeutung der menschlichen Fruchtbarkeit und deren Tragweite vermittelt werden. Sie lernen, was es heißt Mann oder Frau zu sein. Bei „Fit for Love“ geht es um ein „ganzheitliches Verständnisses von Liebe und Sexualität“. Empathie- und Bindungsfähigkeit sollen gefördert werden. Ein wirksamer Schutz vor Pornokonsum und -sucht kann so erreicht werden. Der Studiengang „Leib – Bindung – Identität“ vermittelt eine „entwicklungssensible Sexualpädagogik“ und biete eine Ausbildung zum Sexualpädagogen an. Her-anwachsenden soll eine ganzheitliche Sicht von Sexualität vermittelt werden, damit sie als elementare Lebenskraft verstanden und kultiviert werden kann.

Im Ganzen gesehen, haben sich die einzelnen Vorträge zu einem Gesamtbild ergänzt. Die Organisatorin, Hedwig von Beverfoerde, zeigte sich dann auch entschlossen, die Impulse des Symposiums aufzugreifen. Sie erklärte: „Mit der Expertise dieses Symposiums im Rücken werden wir nicht rasten, bis der rechtswidrige Sexualerziehungslehrplan in Hessen geändert wird.“ Alle Vorträge sollen in Kürze im Netz veröffentlicht werden.

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