Wie viel Regenwaldfläche darf für Massentierhaltung und Billigmobiliar gerodet werden? Wie viel Pestizide dürfen auf unsere Felder? Wie viel Gentechnik darf in unsere Lebensmittel? Wenn es nach großen Teilen der Wirtschaft und der aktuellen Regierung geht, sind strenge Grenzwert zumeist nicht der Königsweg. Seit Jahren setzt man stattdessen auf das Prinzip Freiwilligkeit. Um ein Gesetz zu verhindern, werden oftmals Willenserklärungen abgegeben oder neue Siegel versprochen, die für — Achtung: Phrasenfalle — "mehr Transparenz" sorgen und den Bedürfnissen der "aufgeklärten VerbraucherInnen" Rechnung tragen sollen.
Die Autonomie des Einzelnen tut dem Ökosystem nicht gut
Wäre diese Strategie, die im Übrigen auch bei der Frauenquote lange Zeit verwandt wurde und beim Zucker noch immer praktiziert wird, von Erfolg gekrönt, müssten wir längst wieder ein gesundes Ökosystem zu verzeichnen haben. Die Empirie widerlegt jedoch die hehre Vorstellung. Oder anders gesagt: Wo es an Regulierung mangelt, tut sich nichts oder zu wenig. Ganz im Dienste der Freiheit, versteht sich. Vor nichts scheuen die Entscheidungsträger der vergangenen Dekade so zurück, wie vor Eingriffen in die Konsumkultur, um die Autonomie des Einzelnen nicht infrage zu stellen. Wir alle können demnach selbst entscheiden, ob wir im Supermarkt Faitrade-Produkte oder doch die günstige, zumeist für Mensch und Umwelt problematische Alternative kaufen. Wir alle können selbst entscheiden, ob wir Fleisch essen oder nicht. Dasselbe gilt für Fragen der Mobilität und der Energieversorgung. Ebenfalls gehören die Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs oder die Versorgung via Ökostrom ganz in die Sphäre persönlicher Gefälligkeit und Orientierung.
„Jeder muß alle seine Macht oder Kraft
einem oder mehreren Menschen übertragen,
wodurch der Willen aller gleichsam auf einen Punkt vereinigt wird"
Gewiss dürfte die Zurückhaltung der Politik hinsichtlich Einschränkungen auch als Reaktion auf eine zunehmende Pluralisierung der Lebensstile zu verstehen sein. Die früheren Kampf-Dichotomien zwischen Arbeitgebern und -nehmern, zwischen "denen da oben" und "wir hier unten" sind längst gewichen zugunsten einer Vielfalt von Milieus und Interessensgruppen. Während große Institutionen wie beispielsweise Parteien insgesamt an Bindekraft verlieren, wird jeder zu ihrer oder seiner eigenen Ich-AG. Jede und jeder ist sein eigenes Projekt und strebt gemäß der Studien des Soziologen Andreas Reckwitz nach Exklusivität in allen Bereichen des Daseins. Es gilt, den einzigartigen Urlaub, das perfekte Dinner und ohnehin den besonderen Start-Up-Job zu haben, gerahmt im instagramtauglichen Format. Diese Logik der Abgrenzung fußt mithin auf einem maximalen Freiheitsbedürfnis, die gleichsam mit einer Minimierung an Staatlichkeit einhergehen soll. Sobald die Regierung, was ja ihre Aufgabe wäre, nur kleinste Lenkungsinstrumente in den Markt einzubauen plant, vernimmt man sofort die Rede vom "Paternalismus" und "Dirigismus". Noch schlagkräftiger wirkt nur noch die "Moralisierung", der Feindbegriff aller SUV-Fahrer, Vielflieger und Wohlstandsliberalen schlechthin.
Nur wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass das Stammwort Moral eine derartige Entwertung erfuhr? Zumal sie seit jeher nichts anderes als den Geist hinter den Gesetzen ausmacht, die unser Zusammenleben organisieren. Dass wir einander nicht bestehlen dürfen, dass wir das Eigentum der anderen achten, dass körperliche Unversehrtheit einer und eines jeden eine unhintergehbare Maxime darstellt, verdanken wir einzig und allein in positives Recht gegossenen Idealen und Grundsätzen. Gewiss läuft die Moral der gesamtgesellschaftlichen Individualisierungstendenz entgegen. Denn sie definiert die Verhinderung von Ungleichbehandlung. Sie bildet das Fundament, auf dem alle Menschen dieselben Schutzrechte genießen. Diese Gleichheit steht im Dienste des Ermöglichens und Chancengleichheit. Obwohl manche Taktiker genau das Gegenteil zu behaupten suchen, lässt sie sich somit überhaupt erst als Voraussetzung für die Freiheit verstehen. Nur welche ist gemeint? Allein diejenige der Menschen der Gegenwart? Allein diejenige, die kurzfristiges Wachstum und günstigen Konsum garantiert?
Ein weiterer Anstieg der Treibhausgase wäre verheerend
Erstmals hat das Bundesverfassungsgericht just in einem Urteil das verfassungsgemäße Freiheitsrecht auf die zukünftigen Generationen ausgeweitet. Erstmals zog man damit institutionell den kausalen Zusammenhang zwischen heutigem Handeln und den morgigen Folgen. Leben wir jetzt in Saus und Braus, ist das Leben unserer Kinder und Kindeskinder in gefährdet oder zumindest schwer beeinträchtigt, da die Konsequenzen etwa eines weiteren Anstiegs der Treibhausgase enorm und einschneidend wären. Dies betrifft natürlich unmittelbar die Umwelt, aber auch der finanzielle Spielraum der Nachgeborenen wird schwinden. Kohlenstoffdioxidausstöße, Auslaugung von Böden durch Monokulturalisierung, Insektensterben durch den Einsatz chemischer Herbizide und Pestizide erzeugen Unsummen verdeckter Kosten, die sich im unbotmäßigen Preis für unsere heimische Tiefkühlware nicht widerspiegeln. Stattdessen wird der monetäre Aufwand zur Renaturierung indirekt auf nachkommende Generationen umgelegt.
Ein ungehemmter Kapitalismus, ein allein ungezügelter Markt, der allenfalls Bereitschaft zu freiwilligen Bekenntnissen zeigt, wird diese Ungerechtigkeiten und planetaren Auswirkungen weder verhindern noch beheben. Es erfordert vielmehr einen starken, vorausdenkenden Staat, dessen Agieren sich an universellen und übergeordneten Werten bemisst. Als eines von vielen Vorbildern für die Neuordnung fungiert Thomas Hobbes epochale Schrift "Der Leviathan" (1651), einem Gemeinwesen, in dem dem Regenten und somit dem Staat weitestgehende Interventionsmöglichkeiten eingeräumt werden. Die Idee dahinter: Jeder Bürger ist entsprechend des Frontispizes des Buches Teil eines Gesamtorganismus. Dieser kann nur gedeihen, wenn jede und jeder seinen Platz darin einnimmt. "Um aber eine allgemeine Macht zu gründen, unter deren Schutz gegen auswärtige und innere Feinde die Menschen bei dem ruhigen Genuß der Früchte ihres Fleißes und der Erde ihren Unterhalt finden können, ist der einzig mögliche Weg folgender: jeder muß alle seine Macht oder Kraft einem oder mehreren Menschen übertragen, wodurch der Willen aller gleichsam auf einen Punkt vereinigt wird", so der Denker. Der Staat hat das Gewaltmonopol inne und kann seinen Bürgern dadurch den nötigen Schutz gewährleisten.
„Freiwilligkeit muss dringend durch
staatliche Kontrolle und Steuerung ersetzt werden“
Selbst wenn wir es heute nicht mehr mit Monarchien zu tun haben, die das Denken des englischen Philosophen geprägt haben, dürfte dessen Ansatz durchaus auf das 21. Jahrhundert übertragbar sein. Zwar droht nicht mehr wie zu Hobbes Tagen ein feindlicher Armeeangriff, dafür allerdings eine globale Umweltkatastrophe. Die Epoche der "Anreize" und des wohlfeilen Werbens in Sachen Weltverbesserung ist vorbei. Freiwilligkeit muss dringend durch staatliche Kontrolle und Steuerung ersetzt werden. Im Übrigen schafft dies auch eine beträchtliche Komplexitätsreduktion. Wir müssten uns nicht mehr über hunderte Verbrauchersiegel informieren, wir müssten nicht mehr unzählige Inhaltsstoffe auf Verpackungen identifizieren, wir müssten nicht mehr aus vielen Stromtarifen mit Allerlei kleingedruckten ABGs wählen. Man dürfte sich im Falle von letzteren nicht mehr dazu entschließen, einfach den für den Augenblick billigen Kohlestromvertrag zu buchen. Stattdessen gäbe es eben Ökostrom für alle. Ebenso wäre die Phase des Preisdumpings beim Fleisch passé — mit allen Boni für das Tierwohl und die Entlohnung der zumeist unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeitenden Angestellten im Schlachtgewerbe. Ganz zu schweigen von der Abschaffung von Kurzstreckenflügen und Abgasschleudern auf deutschen Straßen.
Ja, Verantwortung, ein zentrales Element in der Moral, schließt Verbote mit ein. Und es ist gut, dass es sie gibt, wie uns die Geschichte immer wieder lehrt. Die Untersagung beispielsweise von Sklaverei und der Vergewaltigung in der Ehe sind Resultat eines lange währenden Emanzipationsprozesses, an deren Ende die Gemeinschaft eine moralische Entscheidung fällte. Und zwar aus Einsicht! So könnte by the way auch das Vertrauen in die Politik gestärkt werden. Nämlich nur selten mag der Pfad der Moral der ökonomisch beste und von der Mehrheit unmittelbar befürwortete sein. Ihn dennoch zu betreten, heißt, nach dem Guten zu streben. Im Zweifelsfall sind wir zum weisen Verzicht angehalten. Eben darin besteht die Pflicht und die Größe des Menschseins.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.