Sein oder Nichtsein – das ist auch eine kulturelle Frage, die längst zwischen Christentum und Buddhismus aufgetaucht ist. Karl Jaspers war wohl der erste namhafte europäische Philosoph, der den indischen Denker Nagajunar aus dem 2. Jahrhundert als „großen Philosophen“ bezeichnet hat und ihm einen Aufsatz widmete. Damit war endgültig eine Öffnung gegenüber dem indischen Denken und dessen Buddhismus vollzogen, die schon Schopenhauer fraglos erschien. Was hat das aber mit dem Dalai Lama, dem geistlichen Oberhaupt der Tibeter, zu tun?
Der Dalai Lama bekennt sich ausdrücklich zu Nagarjuna, wie er besonders in seinen Harvard-Vorlesungen (Herder, 2009) deutlich macht. Damit zeigt der Dalai Lama, dass er eine entschieden nicht-christliche Position vertritt, die sich bei Kernthemen zeigt wie der Verneinung des Seins und damit Gottes sowie der Rationalität, die in Argumenten und Meditation überwunden werden soll. Dass sich beide nicht vertragen, das Christentum und der Buddhismus, hat der Dalai Lama auch mit seinem letzten Buchtitel klar gemacht: „Der Appell des Dalai Lama an die Welt: Ethik ist wichtiger als Religion“ (Benevento, 2019).
„Was aber der Dalai Lama sagt und schreibt,
ist nicht der Kern der buddhistischen Lehre“
Offenbar ist die Perspektive auf den Buddhismus als Weltreligion nur eine westliche. Den Dalai Lama interessiert sie nicht. Ihm genügt Ethik, die wiederum nicht wie eine westliche Handlungstheorie wie auch immer rational begründet ist oder Transzendenz im christlichen Sinn benötigt. Darum schreibt er: „Was wir heute brauchen, ist eine ethische Grundlage, die sich nicht auf Glaubenssysteme bezieht und daher sowohl für religiöse als auch für nichtreligiöse Menschen annehmbar ist: eine säkulare Ethik.“ Gläubige sollen also unter säkularen Regeln denken und handeln, die „von keiner Religion abhängig“ sind. Ein unglaubliches Ansinnen. Der Dalai Lama verfährt also nach der Regel, von jeder Religion und Ethik das Beste auszuwählen, also „die Betonung der Liebe, des Mitgefühls, der Geduld, der Toleranz und der Versöhnlichkeit.
Aber angesichts der Realität unserer heutigen Welt ist es nicht mehr angemessen, die Ethik auf die Religion zu gründen.“ Er sagt auch, welche Realität unserer heutigen Welt er meint. „Ich bin zwar ein Mann der Religion, aber die Religion allein kann nicht all unsere Probleme lösen.“ Als er vor einigen Jahren erkrankte, seien die Gebete für ihn zwar tröstlich gewesen, „aber ich muss gestehen, noch tröstlicher war es zu wissen, dass das Krankenhaus, in dem ich lag, über die neuesten Geräte zur Behandlung meiner Krankheit verfügte“. Das meint er mit säkularer Ethik – ausdrücklich nicht im Sinne der radikalen Französischen Revolution, sondern eher wie ein globales Weltethos, das tolerant gegenüber den Kernaussagen der Religionen ist. Also eben letztlich doch nicht religiös begründet.
Der sogenannte gesunde Menschenverstand kann irren
Seit seinem letzten Ethik-Buch äußert sich der Dalai Lama regelmäßig auf Twitter. Hier versucht er beinahe täglich, seine Werte zu vermitteln. In einem seiner letzten Einträge schreibt er: „Eine meiner Verpflichtungen ist es, menschliche Werte basierend auf gesundem Menschenverstand und wissenschaftlichen Erkenntnissen zu fördern. Was wir brauchen, ist mehr Selbstvertrauen, das aus der Sorge um das Wohlergehen anderer entsteht. Die wahre Quelle der inneren Stärke und des Selbstbewusstseins ist die Warmherzigkeit.“
Man kann sich fragen, woher kommen seine Verpflichtung, die menschlichen Werte und warum Warmherzigkeit? Auch der sogenannte gesunde Menschenverstand kann irren. Noch fragwürdiger ist sein Eintrag vom 3. Dezember, in dem er das Werben um Freunde nahelegt, um selbst eigene Ziele erreichen zu können: „Jemand mag sehr reich und mächtig sein, aber ohne vertrauenswürdige Freunde wird er nie glücklich sein. Jemand anderes mag arm sein, aber wenn er von vertrauensvollen Freunden umgeben ist, wird er glücklich sein. Daher ist es der beste Weg, sich um andere zu kümmern, um unsere eigenen Interessen zu erfüllen.“
Der Dalai Lama will Ethik, der Buddhismus Erkenntnis
Man könnte hier Aristoteles anführen, der die Freundschaft sehr hoch ansah, wenn auch nicht aus eigenem Interesse; aber philosophisch gesehen ähnelt der letzte Satz aus dem Zitat des Dalai Lama auch der Goldenen Regel und damit dem hypothetischen Imperativ, der eine Handlungsanweisung unter einer äußeren Bedingung angibt, also nicht in sich selbst begründet. Aber diesen Anspruch hat der Dalai Lama auch nicht, eher den einer menschlichen Weisheitslehre, wobei man sich immer wieder fragt, woher er seine Kriterien nimmt. In „Rückkehr zur Menschlichkeit – Neue Werte in einer globalisierten Welt“ (Lübbe, 2001) heißt es hierzu: „Meiner Überzeugung nach können Menschen ohne Religion auskommen, nicht aber ohne innere Werte.“
Wenige Zeilen zuvor schreibt er, dass alle Religionen die „Förderung innerer Werte und eines ethischen Bewusstseins“ begründen. Was nun? Der Dalai Lama tut sich schwer, weil er es jedem recht machen will. Die Gläubigen will er nicht ausschließen, aber um den säkularen Teil der Menschheit kämpft er besonders. Und da scheint das Mitgefühl eine tragende Rolle zu spielen. Kürzlich hatte er getwittert: „Wir sind soziale Wesen, wir sind aufeinander angewiesen, deshalb brauchen wir ein Gefühl der Sorge um das Wohlergehen anderer. Mitgefühl ist wichtig und man muss nicht religiös sein, um es zu praktizieren. Hier und jetzt Mitgefühl zu üben – ein sinnvolles Leben zu führen – ist das Wichtigste.“
Der Lama will ins Nirvana, lässt sich aber impfen
Das sagt er wohl auch zum Corona-Problem, das er immer mal wieder anspricht; er ist geimpft und legt das auch nahe als Sorge um Mitmenschen. Sieht man sich die buddhistische Tradition genauer an, in der der Dalai Lama steht, wirken seine Grundbegriffe wie Mitgefühl, Liebe, Geduld, Toleranz oder Versöhnlichkeit wie ein Verzweiflungsakt. Denn nach der Lehre des Buddha soll man an nichts „anhängen“. Weder an weltlichen Dingen, auch nicht an einem Gott – daher komme es auch, dass an Gott Gläubige nicht ins Nirvana kommen. Ein bekannter Koan, der Sinnspruch eines Zen-Meisters, heißt: „Wenn Du Buddha triffst, töte ihn.“ Buddha ist zwar kein Gott, aber Jüngerschaft als „anhängen“ lehnt der Buddhismus ab – man muss selbst den Weg suchen. Hier gibt es auch an nichts anzuhängen, weil alles substanzlos sei. Warum?
Das Nirvana hat nach Nagarjuna die Eigenschaften: „Nirvana ist Seiendes“, „Nirvana ist Nicht-Seiendes“, „Nirvana ist zugleich Seiendes und Nicht-Seiendes“, „Nirvana ist weder Seiendes noch Nicht-seiendes“. Weil nach dem Buddhismus alle Dinge und Götter in einem Bedingungszusammenhang stehen, gründen sie nicht in sich, weshalb es nichts Substanzielles gebe, sondern nur Leere, eben Substanzlosigkeit. An Substanzlosem anzuhängen wäre also sinnlos. Warum aber dann Mitleid oder Toleranz, wenn man an nichts Substanzlosem anhängen kann?
Buddhismus: Am Ende steht die Erkenntnis der Sinnlosigkeit des Sein
Der Sinn buddhistischer Lehre gründet nur darin, möglichst viele Menschen zur Einsicht in die Sinnlosigkeit allen Seins zu führen und schließlich ins Nirvana. Was aber der Dalai Lama sagt und schreibt, ist nicht der Kern der buddhistischen Lehre. Natürlich sind Mitleid und Toleranz wünschenswert, aber der Kern der buddhistischen Lehre zielt nicht auf Ethik, sondern auf Erkenntnis. Der achtfache Pfad der Leidensverkettungen, die Buddha gelehrt hat, war für ihn der einzige Weg, aus den Verkettungen des Leidens herauszufinden; zwar ist einer der Pfade rechtes Handeln, wozu auch Mitleid und die anderen genannten Tugenden gehören können, aber dieses Handeln steht im Kontext der eigenen Achtsamkeit und damit der Selbstvervollkommnung und Selbstreinigung auf dem Weg zum Nirvana. Allerdings wird das Selbst auf den höchsten Stufen der Erkenntnis in der Meditation auch aufgehoben, weswegen der Buddhismus keine Selbsterlösung ist – das Ich spielt auf dieser Ebene längst keine Rolle mehr.
Somit könnte die Lehre des Dalai Lama als der Versuch angesehen werden, mit auch im Westen gängigen ethisch-säkularen Grundbegriffen Anhänger anzuziehen, die dann weiter in den Buddhismus eingeführt werden können. Hierzu hält der Dalai Lama offenbar die „allgemeinen Werte“ für sinnvoll, um eine gemeinsame Basis mit religiösen und nicht-religiösen Menschen herzustellen und sie anzuziehen. Bereits Nietzsche aber hatte verstanden, dass Schopenhauer mit seiner Mitleidsethik bei seinem Versuch, den Buddhismus zu verstehen, auf dem Holzweg war. Das Mitleid ist nur ein untergeordnetes Motiv bei der Erkenntnis des Leidens.
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