HAYERS HORIZONTE

Den Trugschluss des Sanktionsstaates beheben

Für die „Bürgergeld“-Pläne der Regierung hagelt es Kritik. Dabei täte der Gesellschaft ein wenig mehr Caritas-Geist gut – nicht nur zu Sankt Martin.
Für „Bürgergeld“-Pläne der Regierung hagelt es Kritik
Foto: Karl-Josef Hildenbrand (dpa) | In Politik und Gesellschaft treffen die Pläne der Ampel-Regierung zur Einführung des Bürgergeldes auf Widerstand. Dabei sollten - so unser Autor - bei Sozialleistungen mehr Caritas geübt als Sanktion verhängt werden.

Man kennt diese Fälle: Typen, die morgens nicht aus den Federn kommen, Alkoholiker, die schon mit einem Anruf am Tag überfordert sind, Parkbank- und übergewichtige Sofa-Junkies. Dass viele von ihnen „hartzen“, haben wir durch einschlägige Bild-Zeitung-„Reportagen“ zur Genüge erfahren. Der Tenor lautet stets so: Faulenzer nutzen den gemeinen, hart arbeitenden Steuerzahler aus. Zweifelsohne mag diese Analyse auf manche Bezieher von Sozialleistungen zutreffen, aber nicht auf die Mehrheit.

„Hält man sich vor Augen, welch enorme Summen
die obersten 10 Prozent einer Gesellschaft vereinen,
so wäre eine Umverteilung dringend geboten“

Und dennoch richtete sich das unter Gerhard Schröder eingeführte Modell des SGB II, damals geprägt vom neoliberalen Geist der 90er Jahre, vor allem an den vermeintlichen Missbrauchstätern aus. Obwohl die Dyade „Fördern und Fordern“ hieß, wurde insbesondere letzteres massiv betrieben, mit harten Sanktionen und einer beachtlichen Behördenwillkür, die durch die zeitweilige Aufhebung jedes dritten Bescheids der Arbeitsagentur vor den Sozialgerichten dokumentiert wurde. Also reformierte man in den vergangenen Jahren hier und da ein wenig. Aber da der unausgesprochenen Meinung vieler Entscheidungsträger zufolge die meisten den Wohlfahrtsstaat ausnutzen würden, wollen sie nicht loslassen von den disziplinatorischen Instrumenten.

Nun soll es endlich den großen Wandel geben. Mit dem „Bürgergeld“, das nun in den Vermittlungsausschuss kommt, strebt allen voran die SPD einen Neuanfang an. Kaum ist man dabei, den Strafenkatalog massiv einzuschränken, kommen allerdings die längst totgeglaubten Gespenster des ,schlanken Staats‘ aus der Gruft gekrochen, um sogleich vor den Betrügern zu warnen. Verkannt wird bei diesen populistischen Einwürfen die auch in unseren Gefilden verbreitete Armut. Sie ist nicht allein materieller Natur, sondern ebenso sozialer und seelischer Natur.

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Caritas statt Sanktionen

Jenseits der blühenden Neubaugebiete wohnt sie in Plattenbauten und abgehängten Vierteln, in abgehalterten Spielautomatenkneipen und Parallelgesellschaften. Zahlreiche – gemeinhin als Missbrauchstäter titulierte – Menschen sind psychisch krank und mit einfachsten Dingen überfordert, nicht wenige aufgrund schwerer Schicksalsschläge. Gerade für sie müsste aber der Sozialstaat eintreten. Statt mit Sanktionen sollte er mit einem gänzlich anderen Gestus auftreten, nämlich mit der Caritas, mit dem durchgeschnittenen Mantel des hl. Martin, mit einer helfenden Hand und einem freundlichen Gesicht, das Mut zur Veränderung macht.

Urdeutsche Tugend: Misstrauen

Es dürfte wohl eine urdeutsche Untugend sein, allem zunächst mit Misstrauen zu begegnen, entspringt doch zum Beispiel unsere weltbekannte Bürokratie exakt dem unentwegten Versuch, sämtliche Schlupflöcher zu schließen. Doch Trickser und Falschspieler wird es immer und überall geben. Umgekehrt ließe sich aber die Frage stellen, warum wir eigentlich so genau bei den Sozialleistungen hinschauen, währenddessen man es bei dem Schließen von Gesetzeslücken bei der Steuer, insbesondere für die Superreichen, nicht allzu eilig hat. Hält man sich vor Augen, welch enorme Summen die obersten 10 Prozent einer Gesellschaft vereinen, so wäre eine Umverteilung dringend geboten. Darüber müsste man mal reden. Dann könnten die Sozialleistungen, die derzeit übrigens Alters- und Kinderarmut kaum verhindern, auch um etwas mehr als klägliche 50 Euro erhöht werden.

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