Die christliche Literatur kennt die verschlungensten Pfade zu Gott. Und gerade um die Wende zum 20. Jahrhundert orientieren sich erstaunlich viele Dichter und Schriftsteller, die sich oftmals einem sündhaften Leben hingegeben hatten, wieder in Richtung Kirche.
Zu diesen Dichtern der „tragischen Generation“, wie sie der Ire William Butler Yeats nannte, gehörte auch Lionel Johnson (1867–1902). Er war ein hervorragender Altphilologe aus dem Freundeskreis des Oxforder Ästheten Walter Pater, der Johnson zufolge „von Natur aus katholisch gesinnt“ war. Jetzt sind Lionel Johnsons „Gedichte“ zweisprachig erschienen (Mattes Verlag, 133 Seiten, 18 Euro)
Johnsons Konversion zum Katholizismus am St. Albans-Tag 1891 war das Resultat seiner Faszination für den Ritus, für eine katholische Mystik sowie seiner Sehnsucht nach einer idealen Reinheit und nach Gnade. Diese Sehnsucht war umso stärker, als er sich selbst – in Analogie zu Eduard Gibbons Niedergang und Fall des Römischen Reiches – im Niedergang und Fall erlebt: „Einer, der da fällt, bin ich.“ Tragisch war Johnsons Leben auch, weil er seine Alkoholsucht nicht überwinden konnte und schließlich zu Tode kam, als er von einem Barhocker stürzte.
Doch Johnson wird durch seine Leidenschaften auch zur Selbsterkenntnis getrieben. In seinem Aschermittwochs-Gedicht zum Andenken an den tags zuvor beerdigten symbolistischen Dichter Ernest Dowson, der kurz vor Johnson konvertiert war, wiederholt jede Strophe sowohl am Anfang wie am Ende die Mahnung: „Gedenke dessen, dass du Staub bist, Mensch!“ Das Original ist noch eindringlicher, weil diese Zeilen in lateinischer Sprache das englische Gedicht rahmen: Memento, homo, quia pulvis est. Es ist bemerkenswert, dass es ein evangelischer Pfarrer aus Ostwestfalen ist, der in langjähriger Arbeit die englischen ebenso wie die lateinischen Gedichte des Anglokatholiken Lionel Johnson erstmals in Auswahl ins Deutsche übertragen hat. Nicht zuletzt seine Abneigung, die Hymnologie „Kirchentagshanseln“ zu überlassen, erklärt die Hinwendung zur geistlichen Lyrik des fin-de-siecle.
Frank Stückemann verbindet damit das Bestreben, endlich auch dessen hervorragenden lateinischen Versen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Schon damals war neulateinische Dichtung unzeitgemäß, aber gerade Johnsons Gedichte könnten als qualitative „Spitze eines Elfenbeinturms“ angesehen werden.
Denn in Johnsons Werk ist die Latinität zugleich auch höchste Modernität und damit doch auch wieder an der Zeit: Als Oscar Wilde ihm seinen Dandy-Roman Das Bildnis des Dorian Gray mit Widmung schickte, antwortete Johnson auch darauf mit einem lateinischen Gedicht! Latein verbindet für Johnson Antike und Christentum, dient aber auch als Absicherung gegen den Subjektivismus der Neuzeit: Johnson spricht in „Herz Jesu“ den Erlöser an: „Du hast mich den Finsternissen/ Völlig wunderbar entrissen!“
Die teils sperrige, teils spröde klingende Lyrik hat Stückemann auch genau so übersetzt, dass sie im Deutschen nicht gefälliger klingt, als sie ist. Eben dieses Rauhe lässt den Leser die Spannung nachempfinden, die zwischen dem Leiden am eigenen Ungenügen und der Sehnsucht nach Überwindung der Schwermut, nach Erlösung, besteht. Seine Leser können und sollen sich an Johnsons Lyrik reiben, ihre spirituelle Tiefe und Ernsthaftigkeit wird niemand in Frage stellen.
Johnson betrachtete wie seine Zeitgenossen Jules Barbey d'Aurevilly und Joris-Karl Huysmans die Dekadenz seiner Zeit als eben jenen Humus, auf dem sowohl Christentum als auch Moderne gedeihen. Vergebung, Erlösung, Auferstehung – diese erscheinen bei Johnson als objektive Tatsachen. Es ist Stückemanns feinfühliger Ausgabe zu verdanken, wenn diesem religiösen Dichter von europäischem Format neue Leser geschenkt werden.
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