Herr Professor Safranski, Sie sind Philosoph, Germanist und Schriftsteller. Die NZZ hat Sie den "Meister der geisteswissenschaftlichen Biografien" genannt. Mit Ihren Büchern, die regelmäßig auf den Bestseller-Listen landen, haben Sie uns Dichter wie Goethe, Schiller, Hölderlin, E.T.A. Hoffmann und Philosophen wie Schopenhauer, Heidegger und Nietzsche neu erschlossen. In anderen haben Sie über Phänomene nachgedacht, die unseren Alltag bestimmen, über deren Gehalt aber nur selten eingehend reflektiert wird. Phänomene wie "Wahrheit", "Zeit" und das "Böse". Das Buch, das Sie dazu 1997 in die Öffentlichkeit entließen, ist ein furioser Ritt durch die Geistesgeschichte. Man könnte meinen, es gebe viel Stoff, der mehr Vergnügen bereitet. Was hat Sie veranlasst, gerade zu diesem Thema ein Buch zu schreiben?
Ich hatte mich in den 90er Jahren intensiv mit dem Thema beschäftigt. Abgesehen davon, dass das Böse ein anthropologisches Grundthema ist, was auch für die Beschäftigung mit ihm gilt, fand ich, dass das Denken darüber leider immer oberflächlicher wurde. Und dümmer eigentlich auch. Aber es gab noch einen besonderen Hintergrund. Auf den Mauerfall 1989 folgte eine kurze Phase der Euphorie, so als wäre die Geschichte in ihren Zielhafen eingebogen. Damals glaubten viele, die bürgerliche, liberale, demokratische Gesellschaft wird jetzt obsiegen.
Der Politologe Francis Fukuyama rief gar das "Ende der Geschichte" aus.
Ja, aber dann kam doch der Jugoslawische Bürgerkrieg. Das schlug, jedenfalls in nachdenklichen Köpfen und auch in der Politik, mächtig ein. Nicht nur, dass dieser Krieg ganz in der Nähe ausgefochten wurde, verstört haben auch die entfesselte Boshaftigkeit, die Grausamkeit und der Hass, mit denen er geführt wurde. Das hat dann doch noch einmal gezwungen, zu überprüfen, von welchem Menschenbild wir eigentlich ausgehen, wenn wir zwischenzeitlich ganz optimistisch gestimmt sind, was ja nicht schlecht ist. Trotzdem muss man sich um ein realistisches Menschenbild bemühen. Für die FAZ schrieb ich damals einen Essay, den ich "Die Wiederkehr des Bösen" nannte und in dem ich sehr von den politischen Erfahrungen her argumentierte. Dann zog mich das Thema immer mehr an, sowohl philosophisch als auch, ich nenne es mal so, krypto-theologisch.
Verborgen theologisch, warum?
Nun ja, ich bin Philosoph, kein Theologe. Aber das theologische Denken kennt die Kategorie der Sünde, und die ist per se erst mal realistisch. Deswegen kommt man, wenn man sich in diese Tradition vertieft, dem Menschen auch wirklich näher. In dem Versuch, Gott näher zu kommen, was Theologen gerne machen, kommen sie, jedenfalls wenn sie gut sind, dem Menschen oft besonders nahe. Und deswegen habe ich mich für das Buch auch in diese Tradition hineingekniet und dort dann zum Beispiel den heiligen Augustin mit Arnold Gehlen kurzgeschlossen. Mein Buch über das Böse ist gewiss eines der Bücher, bei denen ich selbst am meisten gelernt habe. Und so übel das Thema auch ist, es befriedigt die Neugier und fordert das Denken heraus. Deswegen bereitet es dann doch Vergnügen. Obwohl man sich nicht selbst loben soll, finde ich, es ist ein wichtiges Buch geblieben, das den Vergleich mit neueren Publikationen zum Thema nicht zu scheuen braucht.
Woran liegt das? Daran, dass Sie, was man auch in Ihren anderen Büchern feststellen kann, die Reichweite Ihrer Aussagen klug zu begrenzen verstehen? Oder auch daran, dass das Böse, das in der katholischen Tradition als Abwesenheit des Guten definiert wird, gleichwohl an dessen Konstanz partizipiert?
Als Phänomen ist das Böse viel zu komplex, um ihm mit ein paar Thesen beizukommen. Ich habe ein behutsam erkundendes Buch vorgelegt. Das minimiert schon einmal die Gefahr, sich später korrigieren zu müssen. Aber da gibt es noch etwas anderes. Beim Nachdenken und Schreiben dieses Buches ist für mich ein Aspekt sehr deutlich geworden, der sich dann später auch im Untertitel niederschlug.
"Das Drama der Freiheit"
Ja, wer tiefgründig über die Freiheit nachdenkt, als etwas, das den Menschen definiert und das seine Würde ausmacht, der muss auf das Böse stoßen. Ganz egal, was die Hirnforschung, die all das wegzuerklären versucht, auch lehrt. Dahinter verbirgt sich ja ein Problem, das oft gar nicht gesehen wird. Dass man die Freiheit nutzt, um sie wegzuerklären.
"Wer tiefgründig über die Freiheit nachdenkt,
als etwas, das den Menschen definiert
und das seine Würde ausmacht,
der muss auf das Böse stoßen"
Heißt: Hätten die Hirnforscher Recht, dürften Sie sich Ihre Ergebnisse nicht zurechnen, weil auch Sie notwendig unfrei wären?
So ist es. Freiheit würde keinen Sinn machen, wenn es in uns ein Programm gäbe, das mit Notwendigkeit zum Gelingen führte. Nein, weil wir abgründige Wesen sind, weil wir negative Optionen haben, uns in ihnen begegnen und uns zu ihnen verhalten können, sind wir frei. Indem man über die Freiheit nachdenkt, denkt man auch über das Böse nach. Und umgekehrt. Diese Verknüpfung ergibt einen Problemstand, der so aufregend wie herausfordernd ist. Und zwar sowohl im Blick auf den Einzelnen als auch auf ganze Kulturen und Zivilisationsmodelle. Weil das ein so konstantes Problem ist, veraltet ein angemessenes Nachdenken darüber auch nicht.
Sie haben den Balkankrieg erwähnt. Uns lässt Putins Überfall auf die Ukraine, die Folterungen und Vergewaltigungen, fragen: Ist das Böse zurück oder war es vielleicht nie weg? Wir können auch woanders hinschauen. In den USA häufen sich Amokläufe an Schulen. Wir wissen um sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen durch Geistliche. Inzwischen töten sogar Kinder Kinder. Ist das Böse mächtiger geworden oder sehen wir nur genauer hin?
Das wage ich nicht zu entscheiden. In Bezug auf unsere Zivilisation habe ich schon das Gefühl, dass wir es mit einem neuen Phänomen der Entzivilisierung und der Verwahrlosung zu tun haben. Empirisch kann ich das nicht belegen, es ist aber mein Eindruck. Und der liegt auch nahe, weil zum Betriebsgeheimnis einer Zivilisation gehört, dass Regeln auch ein Stück weit verinnerlicht werden. Die frühere Soziologie, ich denke etwa an David Riesman, hat das so formuliert: Man bekommt eine funktionierende Zivilisation nur hin, wenn die sich ihr Zurechnenden auch über ein gewisses Maß an Innensteuerung verfügen. Nun hat sich aber auf der medialen Ebene viel getan, das eine Entriegelung von Sublimierungen, eine Entsublimierung würden die Psychologen sagen, begünstigt. Es scheint, als müsse alles raus. Überall, auf Schritt und Tritt, wird zur Enthemmung ermuntert und dazu, das ganze Innenleben öffentlich auszubreiten. Wenn auch, jedenfalls bislang, nicht im vollen Ernst des Lebens, so doch spielerisch, in der Kommunikation. Und das schwappt bei einigen dann eben über.
Also sind die Medien schuld?
Das habe ich nicht gesagt. Aber klar, Sie müssen das fragen. Wir können auch von der Bildzirkulation sprechen und davon, dass diese, der Aufmerksamkeitsökonomie folgend, immer aggressiver und penetranter werden. In dem Maße, in dem sie uns umgeben, nimmt unser eigenes bildgebendes Verfahren, die Phantasie, ab, bekommt die Einbildungskraft immer weniger zu tun. An ihre Stelle treten mediale Inputs und ersetzen die eigene Kreativität. Das führt zur Verrohung. Diese Zwischenwelt des Medialen, in dem wir uns wie in einer Nährflüssigkeit bewegen, hat sich in den letzten 30 Jahren dramatisch gewandelt und tiefe Veränderung in den Menschen hervorgerufen. Dass Kinder Kinder umbringen, ja, das ist schon etwas Neues und muss zurückgeführt werden auf eine veränderte Erlebniswelt dieser jungen Menschen. Eigentlich ist es ganz einfach: Wenn der Anteil des Lebens, den Menschen im Virtuellen verbringen, sei es im Fernsehen, sei es im Internet, sei es in den sozialen Medien, immer größer wird, ändert sich im Wirklichkeitsverhältnis dieser Menschen etwas fundamental. Das hat etwas Bedrohliches und erzeugt, jedenfalls bei mir, einen Eindruck von Realitätsverlust, Verwahrlosung und ja, auch von Enthemmung.
"Dass Kinder Kinder umbringen, ja,
das ist schon etwas Neues und muss zurückgeführt werden
auf eine veränderte Erlebniswelt dieser jungen Menschen"
In Ihrem Buch über das Böse zitieren Sie Friedrich Nietzsche mit den Worten, der Mensch sei das "nicht festgestellte Tier". Nun agieren Tiere instinktiv, nach dem Schema Reiz - Reaktion. Müssen wir Sie so verstehen, dass die Bilderflut das den Menschen Auszeichnende, das Zurücktreten-Könnende, Beobachtende, Reflektierende, Vernunft-walten-Lassende zurückdrängt und stattdessen das Tierische und Triebhafte fördert?
Wenn man es so verstünde, wäre das in der Tat ein Missverständnis. Hier das Tierische und da die Intelligenz und dann bricht im Menschen plötzlich das Tierische gegen die Intelligenz durch. Das wäre zu einfach. Was uns Sorgen machen muss, ist gar nicht der Durchbruch des Tierischen in uns, sondern der Durchbruch der intelligenten Bestialität oder der intelligenten Verwahrlosung auf der Ebene des Geistes. Das ist etwas ganz anderes. Tiere können gar nicht grausam sein. Tiere in der Wildnis sind, nun ja, Tiere in der Wildnis. Sie passen sich ihrer Umwelt an. Aber wenn Menschen auswildern, wildern sie in Räumen aus, die sie zuvor zivilisatorisch geschaffen haben, also in intellektuell gerahmten Welten. In solchen findet die Verwahrlosung statt. Auch die medialen Szenarien, die wir eben berührt haben, sind ja nicht einfach die Darstellungen von Trieben, sondern eine neue Art medial gestützter Geistigkeit. So wie das Böse, das sich da zeigt, etwas ist, das durch die Intelligenz hindurchgegangen ist.
In Ihrem Buch behaupten Sie, das Böse sei "der Preis" der Freiheit. Wie ist das zu verstehen? Teleologisch gesprochen im Sinne der Verfehlung oder doch eher existenziell, als ineinander verwoben, als bedingten sich Freiheit und das Böse gegenseitig wie zwei Seiten einer Medaille?
Ich hätte auch schreiben können, das Böse ist das Risiko der Freiheit. Und zwar weil Freiheit Horizonte eröffnet. Ontologisch gesprochen reißt die Freiheit mich von dem fixierten Sein los und überantwortet mich einem Möglichkeitsraum. Ich bin nicht eingemauert in einer Ontologie der menschlichen Existenz. Zur menschlichen Existenz gehört, dass sie auf den Möglichkeitsraum hin geöffnet ist. Deshalb gehe ich auf die Geburt des Neins, des Verneinen-Könnens ein, als Möglichkeit, die sich aus der Freiheit ergibt.
Sie behandeln dort auch den Sündenfall. Für einen Philosophen eher erstaunlich.
Richtig. Aber die Sündenfall-Geschichte ist eine Meditation über die Freiheit. Denn es geht dabei um die Frage: Wie kommt das Nein in die Welt? Das ist ein ungeheurer Vorgang. Am schönsten hat darüber Sartre in "Das Sein und das Nichts" reflektiert. Sartre beschreibt das Bewusstsein als dasjenige in uns, das uns überhaupt erst mit dem Neinsagen-Können, mit der Negation konfrontiert. Der Normalverstand macht sich gar nicht klar, welche Ungeheuerlichkeit da drinsteckt.
Klären Sie uns auf.
Also, da ist etwas. Und der Mensch kann dieses Etwas wegdenken. Erst spielerisch, probeweise. Er kann einen Plan machen, der noch nicht wirklich ist, aber verwirklicht werden kann und einen Zwischenzustand zwischen Sein und Nichtsein darstellt. Indem der Mensch diesen Plan verwirklicht, streicht er eine Reihe anderer Möglichkeiten aus. Als freie Wesen sind wir andauernd mit der Möglichkeit der Negation verknüpft. Wir besitzen die Fähigkeit, Möglichkeiten zu eliminieren, mehr noch, die Fähigkeit, Wirklichkeiten zu zerstören. Und weil die Freiheit als das Hinausgehaltensein in Möglichkeiten, die man auch ablehnen, verleugnen und zerstören kann, um Platz zu schaffen für anderes, zutiefst mit der Struktur des freien Bewusstseins zusammenhängt, existiert beim Genuss der Freiheit zugleich das Risiko, dass sie zur Quelle des Zerstörens und
Vernichtens wird. Zur Freiheit gehört also sowohl das riskierte als auch das ganze Drama des verfehlten Lebens. Was nicht heißt, dass Freiheit immer im Bösen enden müsse. Freiheit ist ja auch mit dem Schöpferischen verbunden. Sie schafft etwas, realisiert Möglichkeiten, bringt etwas in die Welt, was es so noch nicht gibt. Zerstört dabei aber auch. Die Freiheit ist nicht böse, aber das Böse ist das Risiko der Freiheit. Freiheit ohne dieses Risiko ist keine Freiheit.
Anders als Jürgen Habermas haben Sie sich nie als religiös unmusikalisch bezeichnet. Dennoch fällt auf, wie sehr Sie zum Teufel auf Distanz gehen. Der erste Satz Ihres Buches lautet: "Man muss nicht den Teufel bemühen, um das Böse zu verstehen." Was missfällt Ihnen an der Idee der Existenz des Teufels?
Ich bin gegen die Dämonologie, weil die Dämonologie eine Entlastung darstellt. Man muss radikaler sein. Wenn man das Böse als eine Handlungsmöglichkeit des Menschen versteht, die aus der Freiheit resultiert, dann lokalisiert man das Böse im Menschen und betrachtet es nicht als Einfluss eines bösen Außen in den Menschen hinein. In der Sündenfall-Geschichte lässt Gott die Einflüsterung der Schlange nicht als Entschuldigung gelten, sondern macht Adam und Eva direkt verantwortlich. Es war ihre Entscheidung. Als sie, metaphorisch gesprochen, die Frucht vom Baume brachen, entschieden sie sich gegen ein bestimmtes Sollen. Deswegen lässt Gott den Versuch, sich auf die Schlange herauszureden, nicht gelten. In diesem Sinn will ich den Teufel nicht als Ausrede gelten lassen. Das Teuflische steckt im Menschen selbst als Möglichkeit, bei deren Realisation er
Verantwortung trägt.
"Ich bin gegen die Dämonologie,
weil die Dämonologie eine Entlastung darstellt.
Man muss radikaler sein"
Das schließt nicht aus, dass es ein personales Böses geben kann, das Katholiken mit der Vorstellung des gefallenen Erzengels verbinden. Ich frage auch deshalb, weil Sie Adolf Hitler als "dämonische Gestalt" bezeichnen. Sie geben Beobachtungen Rudolf Diels und Albert Speers wieder, die "einen eigenartigen Wechsel zwischen Besessenheit und Apathie an Hitler" beobachtet haben wollen. Bei Schelling heißt es immerhin: "Das Böse ist etwas Geistiges".
Ich vertrete keinesfalls ein Menschenbild, in dem wir rundherum Herr im eigenen Hause wären. Es gibt Ideen, Obsessionen, von denen man besessen sein kann. Als geistige, wahrnehmende Wesen sind wir auch zugleich Medien für Kräfte, die wir nicht erzeugt haben, auf die wir aber eine Resonanz geben. Da bin ich ganz Heideggerianer. In einer Situation sein, wie das auch Sartre beschreibt, meint ja nicht, die ganze Situation geschaffen zu haben. In solchen Situationen gibt es vielmehr ein ganzes Netzwerk von Kräften, Mächten, Sollensvorstellungen und Wünschen, von Beeinflussungen, auf die wir resonieren. Aber was wir jetzt als Böses diskutieren, das ist das Böse, das durch die vollverstandene Subjektivität des Menschen hindurchgegangen ist und ein Teil von ihm wird. Das ist dann kein Fremdkörper, das ist vielmehr etwas, das in den eigenen Willen übernommen wird, es wird vom Subjekt als solches gewollt. Hitler ist nicht von einem Teufel besessen, sondern er hat in voller Verantwortung das getan und gewollt, was er getan hat. Und ohne Hitler nicht dieser Nationalsozialismus, so wie er gewesen ist als kollektives Phänomen. Ideologische Verblendung, Massenwahn, Untertanengesinnung und so weiter - das alles spielt eine Rolle. Aber einen Teufel braucht man als Ausrede nicht.
In Ihrem Buch treffen Sie eine für Katholiken sehr interessante Unterscheidung. Sie behaupten, Denker der Antike hätten dem Menschen, in dem das Bewusstsein zur Freiheit erwacht sei, zugetraut, sich nach sich selbst zu richten, die katholischen nicht. Wobei es hier nicht um Moral geht, sondern darum, wie der Mensch sein Verlangen nach Transzendenz bewahre. Der "Transzendenzverrat, die Verwandlung des Menschen in ein eindimensionales Wesen", sei, so schreiben Sie, für Augustinus das eigentliche Böse, die Sünde wider den Heiligen Geist".
Die Verstocktheit, ja. Augustin ist für mich immer wieder ein wichtiger Anknüpfungspunkt. Auch in meinem Buch über die Zeit spielt er eine sehr prominente Rolle, weil bei ihm der erste geniale Entwurf des Zeitdenkens zu finden ist. Augustin hat, als er nach seiner plotinischen Phase Fuß im christlichen Glauben gefasst hat, die Transzendenz sehr präzise gefüllt. Transzendenz ist für ihn nichts Anonymes mehr, es ist der christliche Gott. Nun liegt die Fruchtbarkeit von Augustin nicht in seinem dogmatischen Gehalt, den er sinnvoller Weise entfaltet, weil es sein Glaube ist, sondern in dem Akt des Transzendierens selbst. Transzendieren zu können gehört zur Würde des Menschen, zu seiner Geistigkeit. Wenn man diese Tür zumacht, halbiert man den Menschen. Zwar hat sich kultur- und religionsgeschichtlich betrachtet der transzendente Raum mit sehr verschiedenen Inhalten, Glaubensgebärden und spirituell gelebtem Leben gefüllt. Aber gemeinsam ist all dem der Akt des Transzendierens. Den freiwilligen Verzicht darauf nennt Augustin die Sünde wider den Heiligen Geist. Ja, der Mann hat Recht. Die verstockte Eindimensionalität ist, bezogen auf die geistige Existenz des Menschen, selbst etwas Böses. Sie ist Verrat am Menschenmöglichen, ein Stück Bosheit gegen sich selbst, freiwillige Verdummung.
Am Beispiel des Marquis de Sade illustrieren Sie, dass der Mensch das Böse auch um seiner selbst willen wollen könne. Das Mittelalter war da gnädiger. Vorherrschend war dort die Auffassung, der Mensch erstrebe das Gute, täusche sich aber über dessen Gehalt. So gnädig sind Sie nicht. Auch wieder, um den Menschen nicht zu entlasten?
Auch Platon dachte so. Kant unterschied das Gute von dem bloß Nützlichen. Das Nützliche geht noch ganz im Egoismus auf. Kant bestand darauf, dass das eigentlich Gute daher das ist, was dem Egoismus schadet, jedenfalls nicht nützt. Anthropologisch und phänomenologisch gesehen ist das eine richtige Beobachtung, die später unter anderen Begrifflichkeiten wieder auftaucht. Etwa wenn Nietzsche zwischen Selbsterhaltung und Selbststeigerung unterscheidet. Selbsterhaltung ist für Nietzsche der übliche Egoismus, bis dahin, dass die Gene, wie später der Biologe Richard Dawkins behaupten wird, ihre Programme weiter vervielfältigen wollten. Nein, sagt Nietzsche. Das dem Menschen Gemäße und von ihm her gesehene Gute sei die Selbststeigerung, unter Umständen mit dem Risiko, dass die Erhaltung dabei flöten geht. Und ganz wichtig für das Nachdenken über das Böse ist, dass das Böse dieselbe Struktur hat. Das reicht bis dahin, dass man das Böse um seiner selbst willen wollen kann, eben weil es das Böse ist. Natürlich sind solche sadistischen Lüste nicht der Normalfall, sondern der Extremfall. Der aber etwas sichtbar macht. So wie der Extremfall des Guten die Tugendvirtuosität des Menschen zur Anschauung bringt, so bringt das Böse um des Bösen willen die ganze Abgründigkeit des Menschen zum Ansehen.
Nietzsche, dem Sie auch eine eigene Biografie gewidmet haben, identifizieren Sie als gedanklichen Vorbereiter des Nationalsozialismus. Mit ihm sei der "Nihilismus zum vollkommenen Bewusstsein seiner selbst durchgedrungen" und der "Wille zur Macht und die ,Arbeit am Menschenmaterial zum ,Sinn der großen Politik ausgerufen" worden. Muss man Nietzsche heute nicht auch als Wegbereiter einer weiteren Ideologie betrachten, nämlich der des Transhumanismus?
Könnte man. In diesen Kreisen beruft man sich auch manchmal auf Nietzsche. Aber es ist natürlich nicht der ganze Nietzsche. Er war ein Experimentaldenker, der die Dinge bis an ihre letzte Konsequenz dachte, dort angekommen aber auch wieder davor zurückschrecken konnte und einen anderen Weg einschlug. Deswegen darf man aber Nietzsche nicht verharmlosen. So als habe er alles gar nicht so gemeint. Nein, es gibt Aspekte, etwa die Ausrottung lebensunwerten Lebens, das hat er, als er mit seinen Zuchtgedanken unterwegs war, genau so gemeint. Deswegen habe ich das mit Blick auf den Nationalsozialismus noch einmal betont. Die Nazis brauchten nicht Nietzsche für das Verbrechen der Ausrottung des "lebensunwerten Lebens", aber es war eben auch eine Idee von Nietzsche. So ist es auch mit dem Transhumanismus. Die Phantasien der Trans-
humanitären - noch sind es, gottlob, Phantasien - hängen mit Nietzsches Steigerungsphantasien und dem Übermenschen zusammen, der vom Menschen selbst geschaffen wird.
Kritikern des Transhumanismus wird vorgehalten, der Mensch habe sich immer schon übersteigen wollen. Früher durch Bildung, heute durch Technologie, die auch Bildung erfordere.
Ich bevorzuge Bildungsprozesse, bei denen mir die Möglichkeiten, an mir selbst zu arbeiten, nicht von der Technik abgenommen werden. Ich nutze Technik dort, wo ich sie für hilfreich erachte. Aber ich halte es für ein Zeichen der Souveränität, selbst zu entscheiden, wo ich mir von der Technik helfen lasse und wo ich mir selbst helfe. Die Bewahrung der eigenen Souveränität ist ein ganz wichtiger Gedanke. Wir dürfen uns von dem zivilisatorischen Projekt der Digitalisierung nicht in Geiselhaft nehmen lassen. Jeder muss selbst entscheiden können, wie weit er sich darauf einlässt. Es muss ein Grundrecht auf das Analoge geben. Das Fatale am Transhumanismus ist der unterirdische Zwang und die immense Reduktion eigener Entscheidungen. Stichwort Künstliche Intelligenz: Wir wissen heute alle nicht genau, was da noch auf uns zukommt. Aber ich will das nicht aufgeherrscht bekommen. Das dienende Verhältnis der Technik muss gewahrt bleiben. Heidegger hat das unter dem Stichwort der Gelassenheit diskutiert. Wir müssen entscheiden können, wie weit wir das an uns heranlassen und wo wir uns gegen die Übergriffigkeit der technischen Welt zur Wehr setzen.
"Wir dürfen uns von dem zivilisatorischen Projekt
der Digitalisierung nicht in Geiselhaft nehmen lassen.
Jeder muss selbst entscheiden können,
wie weit er sich darauf einlässt"
Sie stellen selbst die Frage, ob die vom Menschen hervorgebrachte wissenschaftlich-technische Zivilisation vielleicht ebenso ihre eigenen Wege gehen werde, wie der - wie Christen glauben - von Gott geschaffene Mensch. Nietzsche abwandelnd hieße das doch unter Umständen: "Der Mensch ist tot. Wir haben ihn getötet."
Schon, ja. Aber ich würde dann sagen: Totgesagte leben länger. Natürlich ist Technik nicht per se schlecht. Wir Menschen sind nicht beleidigt, wenn ein Kran größere Lasten hebt als wir. Vergleichbares gilt für das Auto, das sich sehr viel schneller bewegt als wir. Solche Prothesen, die unseren Wirkungsradius vergrößern, lassen wir uns gerne gefallen. In Schwierigkeiten geraten wir erst, wenn die technische Zivilisation immer tiefer in uns hineinwuchert. Dass dies so ist, ist ein Faktum. Schwierig wird es dort, wo intime Anteile des Menschen, das, was wir Intelligenz und Geist nennen, maschinell dargestellt werden. Das ist eine neue Situation. Eine, die uns vor die Frage stellt, wie wir uns einen subjektlosen Geist vorstellen sollen. Wenn jetzt beispielsweise Gedichte von einer Maschine gemacht werden, versteht man noch einmal neu, warum wir Gedichte lesen.
Nämlich?
Weil ich dort als Subjekt mit dem Reichtum meiner Erfahrung und meiner geistigen Verknüpfungen mit einem anderen Subjekt, dessen Erfahrungen und Verknüpfungen kommuniziere, und zwar auch dann, wenn ich dieses Subjekt überhaupt nicht kenne. Ich weiß zum Beispiel nicht, wer Shakespeare war. Es gibt viele Theorien, wer sich dahinter verbarg. Was ich weiß, ist, es handelte sich um ein Subjekt. Und jetzt soll ich es in der Welt des Geistes auf einmal mit dem subjektlosen Geist zu tun haben? Da werden wir herausgefordert. Zugleich ist es aber auch eine Chance.
Weil?
Dass Maschinen uns in vielen Bereichen nicht nur täuschend nachahmen, sondern, etwa als Schachspieler, viel effizienter sind als wir, fordert dazu heraus, neu zu bedenken, was eigentlich geistige Existenz in Bezug auf den Menschen meint. Philosophisch herauszubekommen, was menschliche Kreativität, von der von Maschinen abbildbaren unterscheidet, eröffnet eine neue Art der Selbstbegegnung. Das ist auch eine Chance. Eine, bei der wir womöglich feststellen werden, wie viel Unheil unsere Maschinen anrichten können. Dabei gilt auch hier: Eine Maschine kann nicht böse sein. Das können nur wir. Wobei wir einige Maschinen vielleicht auch nur aus Bosheit entwickelt haben.
Zur Person:
Rüdiger Safranski, geboren 1945 in Rottweil, ist Philosoph, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller. Für sein in 25 Sprachen übersetztes Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, so etwa mit dem Deutschen Nationalpreis, dem Ludwig Börne Preis und dem Thomas Mann Preis. Zu seinen wichtigsten Werken zählen große Biografien über Heidegger (1994), Nietzsche (2000), Schopenhauer (1988), E.T.A. Hoffmann (1984), Goethe (2013), Hölderlin (2019), Schiller (2005) sowie umfassende Reflektionen anthropologischer Grundthemen wie Wahrheit (1990), das Böse (1997) und Zeit (2015). Zuletzt erschien von ihm im Verlag Hanser "Einzeln sein. Eine philosophische Herausforderung" (2021). Als Gastgeber der 2012 eingestellten ZDF-Kultur-Talkshow "Das Philosophische Quartett", diskutierte Rüdiger Safranski mit Peter Sloterdijk und wechselnden Gästen zudem zehn Jahre lang wichtige Grundsatzfragen der Gesellschaft.
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