Kann der moralische Universalismus in einer Welt bestehen, in der Migration, geopolitische Spannungen und ökologische Krisen gleichzeitig eskalieren? Diese Frage stellte der international renommierte Soziologe Hans Joas bei einem Vortrag im Berliner Bildungszentrum Feldmark – und zeichnete ein Panorama, das historische Tiefenschärfe mit aktueller Dringlichkeit verbindet. Joas’ Diagnose: Der moralische Universalismus, das Ethos der Verpflichtung über eigene Gruppenidentitäten hinaus, steht heute vor alten Verführungen und neuen Zumutungen.
Schon der Einstieg machte deutlich, dass Joas den Begriff nicht als Modewort versteht. Universalismus, so Joas, sei „ein Ethos der Verantwortung, das nicht bei Familie, Nation oder Religion endet“. Er erinnerte an Dietrich Bonhoeffer, der 1933 schrieb: „Die Kirche ist den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet.“ Dies sei damals ein Bekenntnis zu allen Juden gewesen – nicht nur zu den getauften. Universalismus bedeute, so Joas, „die Vergangenheit nicht zu vergessen, an das Leiden früherer Generationen zu erinnern – und zugleich Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen, für Menschen, die noch nicht geboren sind“. Vor allem die ökologischen Krisen hätten diesen Gedanken ins Zentrum gerückt.
Vor die Gegenwart stellte Joas eine historische Betrachtung. Der moralische Universalismus sei älter als Christentum und Aufklärung. Bereits in der „Achsenzeit“ zwischen 800 und 200 v. Chr. seien in Israel, Griechenland, Indien und China universalistische Ethiken entstanden. Aus historisch-soziologischer Perspektive stelle sich die Frage: „Unter welchen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen konnte dieses Ethos überhaupt entstehen?“
Institutionelle Selbstheiligung
Entscheidend sei, so Joas, die Wechselwirkung zwischen imperialer Macht und moralischer Gegenbewegung: Politische Universalismen – Imperien, die „die Welt ordnen wollen“ – hätten immer auch moralische Universalismen hervorgebracht. Später aber hätten Imperien diese Ethiken zur Legitimation ihrer Expansion vereinnahmt. Die Christianisierung des Römischen Reiches oder die konfuzianische Amtsethik seien Beispiele für diese Ambivalenz. Mit dem Zerfall Roms habe schließlich die Kirche das universalistische Erbe aufgesogen – „nicht ohne die Gefahr institutioneller Selbstheiligung“.
Diese alte Gefährdung – die kollektive Selbstsakralisierung – sieht Joas bis in die Gegenwart. „Wir sind die Guten“ bleibe ein gefährlicher Satz, weil er moralische Kritik immunisiert. Auch die Kirchen seien nicht davor gefeit: Die Missbrauchsskandale belegten diese dunkle Seite schmerzhaft. Hier verwies Joas auf Papst Leo XIV., der betont habe, „dass keine Institution sich über die Würde einzelner Menschen erheben darf.“ Als zweite klassische Gefährdung nennt Joas den Anti-Universalismus als Programm: Rassismus, völkische Ideologien, faschistische Projekte – Bewegungen, die Gleichheit der Würde als Schwäche diffamieren. Die Formen seien heute neu, aber der Impuls derselbe. Im Zentrum des Vortrags standen jedoch drei Herausforderungen für das 21. Jahrhundert.
Erstens: Das Spannungsverhältnis zwischen universalistischen Pflichten und partikularen Bindungen. Der moralische Blick dürfe nicht zur „Fernmoral ohne Nähe“ verkommen. Die Migrationsdebatte sei dafür ein Testfall: „Ein moralischer Universalist kann Hilfe nicht pauschal verweigern“, so Joas, doch müsse er zugleich die Belastungen für Wohnen, Schulen, Arbeitsmarkt und soziale Infrastruktur ernst nehmen. Zweitens: Der Vorwurf des Anthropozentrismus. Der Menschenrechtsdiskurs sei, so Kritiker, „speziesistisch“ und blende Tiere, Pflanzen und Ökosysteme aus. Joas versteht diese Kritik, verweist aber darauf, dass die besondere Verantwortung des Menschen nicht symmetrisch aufgehoben werden könne. „Wenn die Sonderstellung des Menschen verflüssigt wird“, warnt er, „verflüssigt sich das Fundament der Menschenwürde.“
Drittens: Die Politisierung des Rechts. Menschenrechte als juristische Sicherungen seien Fortschritte, doch transnationale Gerichte und Erklärungen hätten keine unangefochtene Autorität. Je stärker Gerichte politisch heikle Fragen entscheiden, desto mehr politisieren sie sich selbst – national wie global. „Recht ist Form der Gerechtigkeit, nicht ihr Ersatz“, erinnert Joas ebenfalls hier an ein Wort Papst Leo XIV.
Nationalismus contra Katholizismus
Zum Abschluss weitete Joas den Blick auf die geopolitische Lage: Leben wir am Ende der Imperien – oder in einer nachimperialen Welt, in der alte Muster wiederkehren? Russland handle offen imperial; China dränge wirtschaftlich, technologisch, militärisch vor; die USA würden herausgefordert. Ein neuer „interimperialer Konflikt“ drohe. Universalismus sei dann besonders verletzlich, gefährdet durch autoritäre Ordnungsvorstellungen wie durch demokratische Erosion im Westen. Religion werde dabei schnell instrumentalisiert, wie der sogenannte „White Christian Nationalism“ in den USA zeige. „Nationalismus und Katholizismus“, so Joas, „ist eine contradictio in adiecto.“
Am Ende formulierte Joas vier normative Folgerungen: Universalismus brauche institutionelle Demut, die Balance zu konkreten Bindungen, eine Ökologie, die die Menschenwürde nicht ausblendet, und zwei dauerhafte Prüfsteine: die Option für die Armen und die Option für den Frieden. Universalismus sei keine lineare Erfolgsgeschichte, aber eine Geschichte mit Fortschrittsmomenten – dort, wo Ethos Kultur prägt und Kultur Gewohnheit wird. Seine Aufgabe bleibe, im Lärm der Imperien die Stimme der Würde wachzuhalten: nicht als „Weltimperium der Guten“, sondern als kulturelle und rechtliche Verantwortungsgemeinschaft der Menschheit.
Der Autor ist Historiker und schreibt aus Berlin zu Kunst und Kultur.
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