Berlin

Das Leben sollte nicht überschätzt werden

Ohne Sterben hat auch das Leben keinen Sinn und bedarf weder Freiheit noch Würde. Ein Plädoyer wider die Todesvergessenheit.
Sokrates
Foto: via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Auch von Sokrates kann man Leben und Sterben lernen.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass alle dazu angehalten wurden, etwas so Flüchtiges wie das Leben nicht zu überschätzen. Darin waren sich antike Philosophen und Kirchenlehrer, vernünftige Heiden und weltkluge Christen einig. Sie unterwiesen den Menschen, sich mit dem Tod vertraut zu machen, dem Ziel ihrer irdischen Laufbahn. Das Leben war der Güter höchstes nicht, wie es durch die Jahrtausende in mannigfachen Variationen hieß. Über ein gelungenes Leben entschied ein würdiger Tod. Wer den Tod fürchtete, bestätigte, sein Leben verfehlt zu haben. Zahllose Beispiele eines gefassten Sterbens forderten jeden dazu auf, sie zu beherzigen. Heute hingegen sorgen Tod und Sterben für Unsicherheit und Ratlosigkeit. Denn das Leben rückte in den Mittelpunkt, das wahre, das authentische und deshalb erfüllte Leben, das Glück verheißen und gewähren soll.

Der Arzt ist zum Heiland geworden

Vom Glück, wie es erreicht und festgehalten werden kann, handeln ununterbrochen „Orientierungshelfer“. Dessen Voraussetzung ist Gesundheit. Das Glück muss nicht mehr unzuverlässig sein wie einst die Fortuna. Es bleibt für den beständig, der unermüdlich an sich arbeitet, also gesund lebt und auf Genüsse verzichtet, die schädliche Folgen haben können. Die Erkenntnis des Guten, Wahren und Schönen hilft dabei wenig. Der Arzt und seine Kunst treten an die Stelle von Priestern und Philosophen, sie sollen heilen, was wund ist und jedem helfen, diszipliniert Schwächen zu überwinden, damit im gesunden Körper die Seele gesund bleibt. Der Arzt als Heiland darf im Namen der von allen Übeln erlösenden Wissenschaft Befehle erteilen und Gehorsam verlangen, um Kräfte wieder herzustellen, die vernachlässigt worden waren oder sich trotz aller Vorsicht wehrlos vor Übermächten erwiesen haben. Die wahren Tempel beschädigten Glücks sind die Heilanstalten, in denen Wunder mit chemischen Zaubermitteln und technischer Magie gewirkt werden.

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An nichts wird mittlerweile so inbrünstig geglaubt wie an die wissenschaftlich beglaubigten Medizinmänner, obschon deren Orakelsprüche oft nicht weniger dunkel und geheimnisvoll sind als die des delphischen Orakels und des Gottes Apollo, der auch ein Arzt der Bedrängten und Belästigten war. Wer von Daseinslust und Lebensgluten ergriffen dem „Ruf des Lebens“ unverdrossen folgt und vom „Lebensglauben“ überwältigt aufjauchzt: „Es lebe das Leben“, wird allerdings oft genug heimgesucht von Lebensangst und Sorge um die allein seligmachende Gesundheit. Die „salus publica“, das allgemeine Wohl – ein ehedem umfassendes sittliches Ziel – entfaltete sich daher Wunder und Weihen verheißend in einem Gesundheitssystem, das alle erfasst und sich als rettender Kraft unterwirft.

„Das nackte Leben ist der Güter höchstes geworden“

Der Staat ist unter solchen Voraussetzungen nicht mehr die  Form einer Rechtsgemeinschaft, wie Liberale ihn erfanden, sondern eine heilsnotwendige Anstalt, die dafür sorgt, jeden vor Unheil abzusichern, das möglicherweise sein Leben verkürzt. Er darf unter Umständen alle Menschen zwingen, die Nächstenliebe als Fürsorge auch für die Fernsten nicht zu vernachlässigen. Das Leben, das nackte Leben, jenseits von Freiheit und Würde, ist der Güter höchstes geworden.

Dem unvermeidlichen Tod werden Sinn und Majestät abgesprochen, die einst im Totentanz veranschaulicht wurden. Ist der Tod sinnlos, dann hat allerdings auch das Leben keinen Sinn und bedarf weder Freiheit noch Würde. Zu den Selbstverständlichkeiten der Heiden und Christen gehörte es, dass im Tod als einer sittlichen Leistung sich die Freiheit des Menschen bewährt. Wer das Sterben als notwendige Aufgabe von Jugend an lernte, hatte, wie es immer wieder hieß, das bedingungslose Gehorchen und Dienen verlernt. Die Seelenruhe gewährte Unabhängigkeit von den Zwängen jeweiliger Aufgeregtheiten und äußerte sich in Besonnenheit, die zu einem vernünftigen und guten Leben des Freien gehörte. Wer die Menschen lehrte, unerschrocken zu sterben, der brachte ihnen bei, sich auf das Leben mit seinen Herausforderungen furchtlos einzulassen und die  allzu menschliche Sorge um Kleinlichkeiten hinter sich zu lassen.

Jesus hat uns zum wahren Leben verholfen

Sokrates, von wehrhaften Demokraten zum Tode verurteilt, war ein solcher Lehrer. Er schluckte den Giftbecher und disputierte bis zum letzten Atemzug mit seinen Gefährten über die Unsterblichkeit der Seele und das Reich der Freiheit, in das er nun hinüberwechselte. Christen wussten ohnehin, dass Christi Tod und Auferstehung ihnen zum wahren Leben verholfen hat, jenseits der Ungewissheiten und Täuschungen in der Welt vergänglicher Geschichten. Heiden wie Christen waren bereit, ihr Leben hinzugeben, wenn es darum ging, die wahren Lebensmächte, die Ehre Gottes, des Königs, des Vaterlandes und die eigene vor Verletzungen zu schützen. Ein ehrloses Leben hatte jeden Wert verloren. Demokraten, die das Leben in den Mittelpunkt ihrer „Wertegemeinschaft“ rücken, leben für die Demokratie, mit ihr und in ihr. Es ist nie die Rede davon, dass unter Umständen der wehrhafte Demokrat bereit sein müsse, sein Leben für Einigkeit und Recht und Freiheit zu opfern.

Ein republikanischer Humanist und Liberaler wie der große Althistoriker Theodor Mommsen fragte im Zusammenhang der in das Leben verliebten späten Griechen, ob es denn überhaupt der Mühe wert wäre, für ein Vaterland zu leben, wenn nicht mehr verlangt werden könne, für es zu sterben. Ein anderer Liberaler, der katholische Aristokrat Alexis de Tocqueville, fürchtete 1840, wenn der Geist der Freiheit unter dem Sicherheitsbedürfnis der Demokraten erschlaffe, den unvermeidlichen Übergang aus der Demokratie in einen totalen Interventionsstaat.

Die bevormundende Macht würde allerdings von den meisten begrüßt, weil sie alle möglichen Genüsse stabilisiere. Sie kümmert sich um alle Einzelheiten, ist fürsorglich und mild. Wohlstand, Glück und Gesundheit sind garantiert, selbst die Sorge des Nachdenkens und die Mühe des Lebens nimmt sie jedem ab, um ihn vor seinem ganz eigenen Schicksal zu bewahren.

Bei Huxley wird der Einzelgänger zur Gefahr

Es ist die brave, new world Aldous Huxleys. Die ständig bewegte Gesellschaft und Welt ist in der Gegenwart als alternativloses Ende der Geschichte zum Stillstand gekommen. In ihr darf jeder tun, was er soll. Alle finden, in dauernder Unreife gehalten, ihre Würde darin, im Ganzen aufzugehen. Die moralische Idee erschöpft sich im Wohlstand für alle, in der Pflicht zur Gesundheit, Jugend und Frische. Der Sinn des Daseins und des Glücks liegt im ruhigen funktionierenden Wohlbefinden des sozialen Organismus und seiner Zellen. Mittels der Wissenschaft vom Leben – der Physiologie, Biologie, Psychologie und Soziologie – kann die Beschaffenheit des Lebens von Grund auf verändert werden, so dass ein Bedürfnis nach Freiheit als Normierungsschwäche leicht zu kurieren ist. Ein Fremdling in dieser Welt fordert empört: „Ich brauche keine Bequemlichkeit, ich will Gott, ich will Poesie, ich will wirkliche Gefahren und Freiheiten und Tugend. Ich will Sünde!“ Er wollte das Recht auf Unglück, auf die eigene Geschichte, auf Geschichte überhaupt mit der Erinnerung an die wechselnden Formen der Freiheit.

Ein solches Verlangen ist ein Merkmal politischer Untüchtigkeit, kein Teil des Ganzen sein zu wollen und mit der wahren Bestimmung zum Glück vorerst noch unzulänglich vertraut zu sein. Doch solche perversen, schrecklichen Launen lassen sich mit Medikamenten und Therapien beheben. Aus kleinmütigen und schlaffen Bürgern kann man kein tatkräftiges Volk bilden. Das meinte Alexis de Tocqueville. Aber der große Vormund wünscht ja gar kein großherziges und enthusiastisches Volk. Deshalb müssen die Bioelemente vollständig vom Tod und Freiheit abgelenkt und ganz und gar in der Abhängigkeit vom Leben mit illusionäre Hoffnungen bewirkenden Beruhigungsmitteln gehalten werden. Aber der Tod ist hartnäckig, er lässt sich nicht beiseite schieben und spottet des fragwürdigen, hinfälligen Lebens.

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