Das große Gegenüber

Der „Monotheismus“ wird häufig mit dem Thema Gewalt in Verbindung gebracht. Zu Unrecht, wie der Religionspädagoge Eckard Nordhofen mit seinem aktuellen Buch „Corpora“ belegt. Von Martin Ramb
Mohammed Emwasi alias «Dschihadi John»
Foto: Islamic State Video / Handout (ISLAMIC STATE) | FILE - epa04638084 A composite image showing two still frames from video released by the Islamic State (IS) showing an unidentified IS militant who was pictured threatening US freelance journalist Steven Sotloff and ...

Herr Nordhofen, Sie wollten mit „Corpora“ das Abendland retten. Wie stehen die Chancen?

Mal abwarten. Nein, im Ernst wollte ich durchaus den biblischen Monotheismus gegen bestimmte modische Angriffe verteidigen und aufzeigen, wie aktuell er ist. Um Voltaire zu variieren: Wenn es ihn nicht schon gäbe, müsste man ihn erfinden.

Bei den Angreifern denken Sie wahrscheinlich an Jan Assmann, der im Herbst zusammen mit seiner Frau Aleida den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat?

Ja, Assmann hat mit seinem Buch Moses der Ägypter von 1998 tatsächlich einen heftigen Diskurs losgetreten, der den Monotheismus nicht nur alt aussehen ließ, sondern auch moralisch delegitimierte. Erstmals in der Geschichte – so seine These – sei Religion zu einer Quelle der Gewalt geworden. Während in der alten Welt die polytheistischen Religionen lange friedlich und ohne Wahrheitskonkurrenz nebeneinander hergelebt hätten, habe mit der „Mosaischen Entgegegensetzung“ erstmals eine Religion einen exklusiven Wahrheitsanspruch erhoben und daraus das Recht gezogen, die „falschen Götzen“zu bekämpfen. Diese Behauptung schien unter dem Eindruck des islamistischen Terrors vielen Zeitgenossen hochplausibel.

Das war natürlich Wasser auf die Mühlen derer, für die Religion sowieso eine Art Geisteskrankheit ist und die schon aus hygienischen Gründen es für einen großen Fortschritt halten, sie hinter sich zu lassen. Auch die aktuelle Skandalkrise der Kirche lässt diese Mühlen wieder heftig klappern?

So ist es. Aber der Gewaltvorwurf und die Debatte, die sich daraus ergibt, ist weiterhin virulent. Wenn wir über Gewalt und Religion reden, ist religiöser Fanatismus tatsächlich eine Quelle blutiger Kämpfe bis in unsere Tage. Denken wir nicht nur an den Islamismus, sondern auch an entfesselte Hindus und die Buddhisten in Myanmar, die ihre Rohinjas verfolgen, oder an die chinesische Unterdrückung der Tibeter und Uiguren. Das zeigt, dass die Verbindung von Gewalt und Religion keine Spezialität von Monotheisten ist. Übrigens hat Assmann seine These inzwischen so modifiziert, dass man schon von einer Revision sprechen kann.

Wie sieht die heute aus?

Als eigentliche Quelle der Gewalt hat er den Gegensatz: Wir und die Anderen ausgemacht. Religöse Unterschiede können dabei eine Rolle spielen, sind aber nicht die tiefste Ursache. Assmann hatte aber mit seiner „Mosaischen Entgegensetzung“ auf ganz andere Weise recht: Erstmals in der Religionsgeschichte hatte die Welt durch Israel ein Gegenüber bekommen. Sein einziger Gott war, anders als die vielen funktionalen Gottheiten der alten Welt, kein Teil von ihr, sondern ihr Schöpfer. Inzwischen spricht er abgeschwächt nur noch von der „Mosaischen Unterscheidung“. Dabei kommt es gerade auf die Entgegensetzung an, das große Gegenüber der Welt.

Hatte nicht schon der Pharao Echnaton (1351–1334 v. Chr.) eine Art Monotheismus durchsetzen wollen?

Der Monotheismus lag am Ende der Bronzezeit in der Luft. Wer seinen Verstand benutzte, konnte den polytheistischen Mechanismus durchschauen: kein menschliches Interesse ohne himmlische Adresse. Tatsächlich kann man auch schon Echnaton die aufklärerische Religionskritik an den selbstgemachten Göttern unterstellen. Er kondensierte alle ägyptischen Gottheiten auf die größte Singularität unseres Kosmos: die Sonne.

Also gebührt Echnaton das Patent auf den Monotheismus?

Nein. Die Sonne ist kein Gegenüber der Welt. Sie ist immer noch ein Teil des Kosmos. Der eigentliche radikale Glaube an den einen Gott ist tatsächlich in Israel zum Durchbruch gekommen. Der Schöpfer heftet im ersten Buch der Bibel die Sonne neben dem Mond als Leuchte ans Firmament. Der bis heute faszinierende Monotheismus ist, das sagte auch Assmann, tatsächlich eine Entgegensetzung. Ob es allerdings eine mosaische ist, kann man nicht sicher sagen.

Ist denn nicht Moses die große Gründerfigur?

Die Alttestamentler haben herausgefunden, dass der eigentliche Durchbruch zum Monotheismus im Babylonischen Exil stattgefunden hat. Von da aus blickt Israel dann zurück, vor allem auf den Exodus mit Moses, dem großen Führer, und überarbeitet die alten Texte aus seiner neuen Perspektive.

Dann müsste man statt von einer „Mosaischen“ von einer „Babylonischen Entgegensetzung“ sprechen?

Die Entgegensetzung ist das Entscheidende. Und zwar nicht der Gegensatz wahr – falsch, wie Assmann anfangs meinte, sondern das große Gegenüber von Gott und Kosmos. Ohne die Ausrichtung auf Vernunft und Wahrheit kommen wir nicht aus, wozu hätten wir sonst unseren Verstand.

Sie schreiben dem Monotheismus sogar eine anarchische Kraft zu?

Anarchie im ursprünglichen Wortsinn als Gegenkraft zur Herrschaft. Wenn ich in einer Welt lebe, die ein großes Gegenüber hat, eine Wirklichkeit, der sie ihre eigene Wirklichkeit verdankt, dann haben alle irdischen Machthaber einen Konkurrenten. Ich nenne das eine „eschatologische Gewaltenteilung“.

Sie teilen also mit Assmann und anderen die These, dass der Monotheismus eine Supernova der Religionsgeschichte, etwas bis dahin nie Dagewesenes ist. Was ist das Neue am Monotheismus?

Die vielen Götter sind allesamt Funktionsgottheiten. Sie sind alle „für etwas gut“, wie bei den Tarotkarten gibt es Götter für alle Lebenslagen: Liebe, Krieg, Fruchtbarkeit, Gesundheit et cetera. Deshalb stehen sie ja auch unter dem Verdacht, nur ausgedacht und selbstgemacht zu sein.

JHWH, der neue Gott des alten Israel, ist dagegen mehr als die Verlängerung irgendwelcher Wünsche und Zwecke. Er ist transfunktional. In der entscheidenden Offenbarungserzählung ruft er am brennenden und nicht verbrennenden Dornbusch einfach nur sein Dasein aus: „Ich bin da“. Mose hatte seinen Namen wissen wollen. Ein Gott, der sein pures Dasein als seinen „Namen für alle Zeiten“ ausruft, wird zu einer singulären, ganz andersartigen Wirklichkeit. Zum großen Gegenüber, zum Schöpfer der Welt.

Und was ist daran heute so aktuell?

Die rasant sich ausbreitende Digitalisierung immer neuer Lebensbereiche und die Auslagerung des Denkens auf Maschinen, die inzwischen sogar ursprünglich menschliches Verhalten simulieren können, nimmt immer mehr die Züge eines subjektlosen Totalitarismus an. Nahezu alle innerweltlichen Prozesse könnten sich, IT-gestützt, verselbstständigen. In einer solchen Situation gibt es nichts Kostbareres, als eine Instanz, die davon nicht erreicht werden kann.

Und das wäre das große Gegenüber, der Gott des alten Israel?

Genau!

Nun hat „CORPORA“ ja fulminante Kritiken bekommen. Wolfgang Thierse hat es in Berlin vorgestellt und Hans Maier möchte es sogar zur Pflichtlektüre für alle Theologen machen.

Hoffentlich schreckt das niemanden ab. Ich selbst hätte nie gedacht, wie fruchtbar der Ansatz sein würde, den Monotheismus einmal von seinen Gottesmedien her zu inspizieren.

Kann man angesichts der exegetischen und archäologischen Forschungsliteratur überhaupt noch etwas Neues entdecken?

Wir müssen manchmal ein paar Schritte zurücktreten, um die langen Linien und das Wesentliche zu erkennen und dürfen uns nicht in Details verlieren. Ich kenne einen Alttestamentler, dessen Habilitationsschrift sich um die Erforschung einer Pflanze in der hebräischen Bibel drehte.

Das sagen gerade Sie? Was ist mit Ihrer Entdeckung zum Originaltext des Vaterunsers?

Da haben Sie recht. Nach einem, sagen wir philosophischen Blick aus dem Abstand, muss man, wenn nötig, auch wieder einmal ganz nahe herantreten und am richtigen Punkt die philologische Lupe in die Hand nehmen. Und dann macht man eine Entdeckung, die man zunächst selbst nicht für möglich hält.

Sie behaupten im Ernst, dass die vierte Bitte wie wir sie immer beten: „Unser tägliches Brot gib uns heute“, den ursprünglichen Sinn verfehlt?

Das Verrückte ist: Ich bin nicht der einzige und nicht der erste, der gemerkt hat, dass Jesus etwas anderes und mehr im Sinn hatte als die Nahrung, die uns satt macht. Simone Weil hat deswegen das Vaterunser immer im griechischen Text des Matthäusevangeliums gebetet. Auch Benedikt XVI. hat im ersten Band seines großen Jesusbuches dazu einiges gesagt. Der Kirchenvater Hieronymus, der die maßgebliche lateinische Übersetzung der Evangelien geliefert hat, formuliert: „panem nostrum supersubstantialem“. Er spricht also nicht vom täglichen, sondern vom „überwesentlichen“ Brot. Man könnte auch sagen vom „himmlischen“ Brot. Brot war für Jesus und die Seinen ein großer Sinnträger. Auch wenn manche Exegeten seine Geburt in Bethlehem anzweifeln. Jesus hat aus vielen Gründen dort, im wörtlich: „Haus des Brotes“ seine Wurzel.

Ist das nicht eine Entdeckung für philologische Spezialisten?

Das Brot markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Mediengeschichte des Monotheismus. Wenn wir uns himmlisches Brot einverleiben, machen wir uns selbst zum Gottesmedium. Mehr geht nicht!

Meinen Sie im Ernst, man könne ein Vaterunser, das Gebet, das alle Christen gemeinsam haben, das die Eltern uns gelehrt haben, das in höchster Not, an Gräbern aber auch aus Dankbarkeit über unsere Lippen kommt, einfach ändern?

Ein wichtiger erster Schritt wäre, in Katechese und Verkündigung den Sinn der Bitte einfach zu erklären, dann könnte man fürs erste auch den gewohnten Wortlaut beibehalten. Ich kenne aber inzwischen einige, darunter auch Priester, die beten: “Unser himmlisches Brot gib uns heute”; das wahrt den Rhythmus und kommt dem Sinn am nächsten.

Nun ist „Corpora“ schon mehrfach nachgedruckt worden. Hat es denn keinen Einspruch gegeben?

Ich kann nicht aufhören, mich zu wundern. Auch darüber.

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