Mystik

Das Geheimnis der Bäume ergründen

Winterliche Berglandschaft
Foto: Karl-Josef Hildenbrand (dpa) | Mit Frost überzogene Bäume stehen auf einem Höhenzug im Oberallgäu im Sonnenschein.

Alle Jahre wieder liegt in unserem Postkasten ein Gutschein der Firma "Rapiro Haustechnik". Sie betreut unsere Heizung. Unter Zuzahlung von zehn Euro können wir den Gutschein gegen einen Weihnachtsbaum einlösen. Trotz Corona ist die Firma optimistisch und schreibt: "Erneut wurde uns vor Augen gehalten, dass die Krise uns nur noch stärker macht." Dieser Spruch hätte meinem Vater sehr gefallen. Von ihm lernte ich viel über das Geheimnis der Bäume   nicht nur zur Weihnachtszeit.

Im Spätherbst wurden im Garten die Dahlien aus der Erde genommen, Stauden mit dem Spaten getrennt und junge Bäume umgepflanzt. Der Vater stach ihre Wurzeln weiträumig ab. Die Wurzelballen waren so schwer, dass wir Kinder sie nicht aus dem Erdloch heben konnten. Jungen Bäumen, sagte der Vater, tue es durchaus gut, wenn sie gelegentlich umgepflanzt werden. Einen alten Baum dagegen solle man nicht verpflanzen, sein Wurzelwerk sei zu weit verzweigt. Bei einigen Bäumen könne es so groß sein wie die Baumkrone.

„Bonifatius und die iroschottischen Missionare fällten diese germanischen Heiligtümer
und bauten aus ihrem Holz die ersten Kirchen“

Über die Botschaft der Bäume dachten wir Kinder nicht nach. Wir erlebten sie unbewusst beim Klettern in Bäumen. Wie sie, so wollten auch wir hoch hinaus. Wir hatten keine Angst vor großen Höhen und liebten den Wind, der die Äste wiegte, an die wir uns klammerten wie junge Affen an das Fell ihrer Mutter. Bäume wuchsen wie wir nicht nur in die Höhe, sondern auch in die Breite. Davon legten die immer breiter werdenden Herzen und Namenszüge Zeugnis ab, die einst von Liebespaaren in die Baumrinde geritzt worden waren. Wir verletzten die Rinde nicht, denn wir wollten nicht, dass die Bäume bluteten. Die Sommermonate verbrachten wir im Wald. In den Wintermonaten führte uns die Mutter durch die geheimnisvollen Wälder der Grimmschen Märchen. Von Bäumen war auch viel die Rede in den Volksliedern. Aus diesem Wurzelwerk der Kindheit bildete sich eine Empfänglichkeit für Bilder von Bäumen, aber auch für Symbole überhaupt.

In der geistlichen Welt sind Bäume geheimnisvolle Quellen der Inspiration. So erfährt Buddha unter einem Feigenbaum die Erleuchtung. Noch heute wird ein Ableger dieses heiligen Baumes in Bodhgaya verehrt. Bei den Germanen war der Baum ein Symbol der Einheit des Lebens. Die Krone der immergrünen Weltesche Yggdrasil reicht bis in den Himmel. Ihr Stamm trägt die Welt der Menschen, und zwischen ihren Wurzeln wohnen die Nornen. Sie bestimmen das Schicksal der Menschen. Symbol des Weltenbaumes war auch die berühmte Irminseule. Sie markierte wie der Baum im Paradies einen heiligen Hain, in dem kein Tier getötet werden durfte.

Im Paradies stand der Baum der Erkenntnis

 

Die Eiche galt als Lieblingsbaum des Gottes Donar. Bonifatius und die iroschottischen Missionare fällten diese germanischen Heiligtümer und bauten aus ihrem Holz die ersten Kirchen. Das war nicht nur unsensibel, sondern auch unnötig, haben doch Bäume auch im Judentum und Christentum eine große spirituelle Bedeutung. Schließlich standen im Paradies der Baum der Erkenntnis und der Baum des Lebens, und Johannes sieht in einer Vision des wiedergefundenen Paradieses neue Bäume des Lebens. Sie wachsen zu beiden Seiten des Flusses mit dem Wasser des Lebens und tragen zwölf Mal im Jahr Früchte. So steht am Anfang (Genesis 2,9) und am Ende (Apokalypse 22,2) der christlichen Bibel das Symbol des Lebensbaumes.

In den Psalmen ist der Baum ein Sinnbild für Standhaftigkeit. "Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum, er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon." (Psalm 92,13) "Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder noch sitzt, wo die Spötter sitzen, sondern hat Lust am Gesetz des Herrn und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht! Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, das gerät ihm wohl." (Psalm 1,1-3)

Wurzeln verweisen auf die unsichtbare Seite Gottes

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Der Baum ist auch das zentrale Symbol der jüdischen Mystik oder Kabbala. Der Name "Kabbala" bedeutet "Tradition". Er bezeichnet die spirituellen Wurzeln des Judentums. Das Hauptwerk der Kabbala wurde Ende des 13. Jahrhunderts in Kastilien geschrieben. Sein Autor ist Moses ben Schemtow de Leon (1250 - 1305). Der Titel des berühmten Buches lautet "Sefer ha-Sohar" ("Buch des Glanzes"). Wie jeder Baum mit seinen Ästen und seinen Wurzeln einen sichtbaren und einen unsichtbaren Teil hat, weiß die jüdische Mystik, so besitze auch Gott eine sichtbare und eine unsichtbare Seite.

Die sichtbare Seite Gottes ist die geschaffene Welt. Der Kabbalist vergleicht sie mit zehn Ästen oder Sefirot. Das sind Attribute Gottes wie Weisheit, Vernunft, Liebe, Barmherzigkeit oder Schönheit. Die Wurzeln des Baumes verweisen auf die unsichtbare Seite Gottes. Sie wird "Wurzel aller Wurzeln" oder auch "En-sof" ("das Unendliche") genannt. Die verborgene Seite Gottes ist geheimnisvoll und unergründlich. Doch wie die Äste eines Baumes ihre Kraft aus den Wurzeln ziehen, so lebt die gesamte Schöpfung aus der unsichtbaren Wurzelkraft Gottes. "Das Unendliche leuchtet durch das Endliche", so erklärt der in Berlin geborene Mystikforscher Gershom Scholem (1897 - 1982) das Wesen der symbolischen Weltsicht.

Wurzeln geben Halt in den Stürmen des Lebens

Symbole sind Schlüssel zu jener Tiefe, die unser Leben reich macht. Sie sind wie Magnete: Sie ziehen ihnen Verwandtes an. Plötzlich ordnet sich die innere Welt auf wunderbare Weise zu einem Kraftfeld. Wo alles eine Ansammlung von Einzeldingen war, herrscht plötzlich Ordnung. Die Arbeit mit Symbolen gibt dem Leben Sinn. Die eigene Lebensgeschichte wird lesbar. Symbole verknüpfen das eigene Leben zugleich mit den Erfahrungen anderer Menschen, wie sie in Märchen, Mythen, Liedern und Bildern der Menschheit zu finden sind. So machen Symbole das ganz persönliche und zugleich das transpersonale Energiefeld der Menschheit sichtbar, über die Bedeutung der Wurzeln beginnen wir erst nachzudenken, wenn der Verlust droht oder eingetreten ist.

Wurzeln geben uns in den Stürmen des Lebens Halt. Je stärker wir verwurzelt sind, desto weniger sind wir anfällig für die Moden und Meinungen. Alte Bäume werden von den Stürmen des Lebens nicht so schnell entwurzelt wie junge. Wurzelkräfte sind die Kirche, die Familie, eine Landschaft, eine bestimmte Region, die Muttersprache und damit verbunden die Lieder, Geschichten, Bilder und der Glaube der Kindheit. Diese Wurzelkräfte haben uns geprägt. Sie lassen uns wachsen. Ihr weit verzweigtes Netz liegt in der Tiefe der Seele. Aus ihr leben wir – meist ohne es zu wissen.

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Doch wenn die Axt an die Wurzel gelegt wird, spüren wir sie. Dann erfahren wir das Wurzelwerk unserer Herkunft vielleicht zum ersten Mal bewusst. Solche "Axtschläge" können geistige, körperliche oder spirituelle Krisen sein, der Auszug aus dem Elternhaus, die Krankheit, die Vertreibung aus der Heimat, der Verlust eines lieben Menschen. Dann erfahren wir uns plötzlich bis in die letzten fein verzweigten Wurzeln unseres Lebens, dann wird uns bewusst, dass wir nicht nur aus uns selbst leben, dann dringen wir zum Geheimnis unseres Ursprungs vor und zu jenen Wurzeln des inneren Lebens, die niemand zerstören kann.

Der Tannenbaum will etwas lehren

Wie die Wurzeln in die Tiefe des Lebens, so strebt der Baum in jene Höhen, die über uns hinausweisen in den Himmel. Das gilt besonders für den Weihnachtsbaum. Er symbolisiert den Baum des Lebens. Deshalb ist Weihnachten das Freudenfest des wiedergefundenen Paradieses. "Heut schließt er wieder auf die Tür/ zum schönen Paradeis; der Kerub steht nicht mehr dafür./ Gott sei Lob, Ehr und Preis" (GL 247.4). Die alten Lieder enthalten eine klare Katechese. Der Tannenbaum "will mich  was lehren", nämlich die Tugenden der Hoffnung und Beständigkeit. Gerade unsere Zeit braucht sie mehr denn je. Ein anderes Lied ("O Tannenbaum, du trägst einen grünen Zweig") spricht vom Gottvertrauen in dunkler Zeit.

Alle Jahre wieder ist der Weihnachtsbaumverkauf auch wegen der Grillbude sehr gut besucht. Aus einem Lautsprecher klingen die alten Lieder und laden ein, ihr Geheimnis zu entdecken.

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