Emilia Vasaryova, die „erste Dame des slowakischen Theaters“, gab zum Anlass ihres achtzigsten Geburtstags in diesem Jahr ein bemerkenswertes Interview. Sie erzählte von ihrer Kindheit, der Liebe zur Natur und den kleinen Freuden des Alltags. Es gehört zur Tugend dieser Generation, die eigenen Erfolge und ihre Bedeutung herunterzuspielen. Dabei sind es oft bewundernswerte Frauen, die im Privaten, wie im Beruflichen mit etlichen Schwierigkeiten kämpften und stets ihre Ausstrahlung und Würde behielten. Oft frage ich mich, wie solche Persönlichkeiten die neuesten Trends und Entwicklungen in der Gesellschaft beurteilen würden.
„Die Avantgarde besteht heute darin,
sich in der von Informationen und Selbstdarstellung übersättigten Welt
rar zu machen“
Die Interviewerin dachte wohl ähnlich. Sie fragte die Schauspielerin, welchen Rat sie einer vierzigjährigen Frau heute mit auf den Weg geben würde; worauf Emilia Vasaryova schlicht antwortete: „Das Geheimnis ist das Wichtigste, was uns im Leben Halt gibt. In der Ehe, in Beziehungen, in allem, was wir tun. Das Geheimnis – und nicht, was die Leute alles über mich wissen.“ Das Geheimnis sei auch ein wesentlicher Bestandteil der Kunst: Die Kunst veredele die Seele, weil sie Geheimnisse beinhaltet, die wir selbst entdecken müssen.
Das Geheimnis stellt also ein Mittel gegen die Profanität und Übersättigung dar. Diese Sätze kann man aber auch als eine Anspielung auf die Selbstdarstellung der modernen Frauen (aber nicht nur Frauen) in den sozialen Medien verstehen. Wir geben heute vieles von uns preis. Wo wir essen, wen wir treffen, was wir dabei füh-len. Die sozialen Medien laden per se zur permanenten „Selbstentblößung“, ja manchmal sogar „Selbstentleerung“ ein. Nicht nur die des Körpers, sondern auch der Seele. Wo der Weg hinführt, bleibt abzuwarten. Mit Sicherheit kann man sagen: wer alles preisgibt, bei dem bleibt zum Entdecken wenig übrig.
Heute soll alles penibel beobachtet, geprüft und beurteilt sein
Dabei gilt es dieses Geheimnis auch (oder gerade) in Zeiten wie heute zu wahren, in denen alles penibel beobachtet, geprüft und beurteilt wird. Das beklagt auch der slowenische Philosoph Slavoj Žižek. Seiner Auffassung nach sollten wir die Rolle der ungeschriebenen Regeln nicht unterschätzen. Der heutige „Vulgär-Populismus“ oder Trumpismus, aber auch die Linken mit ihrer politischen Korrektheit, würden die ungeschriebenen Gesetze verletzen oder wegleugnen. Sein Problem mit der politischen Korrektheit, so Žižek, sei es, dass sie alles ausformulieren wolle und explizit mache. Eine zutreffende Kritik, wie ich finde.
Einen eigenen Weg gehen, ohne Rechtfertigungsdrang
Nun soll es nicht darum gehen, diese Trends und Entwicklungen als solche zu verurteilen. Es ist gut, dass wir die Möglichkeit haben, auf uns durch unsere Profile in den sozialen Medien aufmerksam zu machen und uns gegenseitig über Interessantes auszutauschen. Es ist gut, dass die „Me-Too-Debatte“ auf strukturelle Probleme im Umgang der Geschlechter miteinander aufmerksam machte. Es wird aber Zeit, wieder das Geheimnis und die Leichtigkeit ins Spiel zu bringen. Die Avantgarde besteht heute darin, sich in der von Informationen und Selbstdarstellung übersättigten Welt rar zu machen. Einen eigenen Weg zu gehen, ohne sich immer erklären und entschuldigen zu müssen.
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