Jedes Jahr früher, jedes Jahr schlimmer: So kann man den spätestens im November einsetzenden Weihnachts-Terror in Stadt und Land beschreiben. Es fängt damit an, dass bereits von „Weihnachtsmärkten“ gesprochen wird, bevor die Adventszeit überhaupt begonnen hat – nachsommerlich erscheinende Lebkuchen und Spekulatius in den Geschäften als allererste unerwünschte Vorwarnung. Eine (Konsum-)Gesellschaft also, die nicht warten kann und mag und die dann in der eigentlichen Zeit der Vorbereitung, dem Advent, das so ungeduldig erwartete Fest einfach vorwegnimmt und gnadenlos durchfeiert. Kolumnisten machen sich darüber lustig, dass mit tödlicher Sicherheit jedes Jahr aufs Neue die gleichen englischsprachigen Dudellieder das Gehör quälen, die mit vagen Appellen an Mitmenschlichkeit und Liebe eine diffuse Botschaft verbreiten.
Jesus ist die Gabe, die nicht mit Gold aufzuwiegen ist
Vollends das Grauen packt den christlich empfindenden Passanten, wenn er dann in der Adventszeit sich den Weg durch das Zentrum einer beliebigen deutschen Großstadt zu bahnen versucht: Eine garstige Geruchs-Melange aus frittiertem Allerlei, gebrannten Mandeln und dem klebrigen Alkohol, der mit einem echten Punsch so wenig zu tun hat wie – ja, wie eben diese auf die Spitze getriebene Kommerzorgie mit dem, um was es eigentlich geht. Denn etwas fehlt, das müsste auch religiös Ungebildeten auffallen, etwas fehlt, durch das aber alles fehlt: der Herrgott, das Kind in der Krippe, Jesus, der als Sohn Josefs und Mariens in Betlehem zur Welt kam. Manchmal findet man im hintersten Eck der lautstarken Weihnachtsmärkte doch noch eine Krippe aufgebaut, da, wo sie nicht stört und den Buden nicht zu viel Platz wegnimmt. Aber machen wir uns nichts vor: Das Weihnachtsfest ist usurpiert, von der Konsum-Gesellschaft, die zu Ehren der Menschwerdung Gottes noch einmal mehr konsumieren soll, es ist so durch den Fleischwolf gedreht, dass man sich als Wissender und Glaubender nur schamvoll abwenden kann. Und dennoch scheint der Eindruck nicht zu täuschen, dass hinter Kommerz und Jahrmarkts-Rummel eine große Sehnsucht verborgen liegt: Dass es wahr sein möge nämlich, dass die Geschichte vom kleinen Kind im ärmlichen Stall, dessen Geburt besondere Zeichen umgeben und der als Retter und Heiland begrüßt wird, schlicht und einfach wahr sein möge. Im Herzen weiß jeder, der in diesen Wochen mit gefülltem Geldbeutel in die Innenstädte vordringt, um Geschenke zu kaufen, für andere oder für sich selbst, dass nichts daran bleibend glücklich macht. Jesus ist ja offenkundig gratis geboren, die Menschen damals und wir heute haben nichts dafür getan: Er ist das eigentliche, das große Geschenk, die Gabe, die nicht mit Gold aufzuwiegen ist. Die Könige brachten damals Gold, Weihrauch und Myrre, immerhin ein Hinweis darauf, dass so etwas wie ein gutes Geben existieren muss. Es ist die Weise, andere so zu beschenken, dass man selber beschenkt ist. Das kann man lernen, und in diesem Lernen geht einem auf, dass das gute Geben ohne große Summen, ohne materiellen Overkill auskommt.
Das Gute geben ohne materiellen Overkill
Der Autor dieser Zeilen erinnert sich an eine dieser verfrühten „Weihnachtsfeiern“ in einem noblen Haus in Berlins Mitte, mit allen teurem Schnickschnack eingerichtet und geschmückt, das ahnungslosen Besuchern signalisieren soll, dass hier der Erfolg, jedenfalls das große Geld Einzug gehalten hat. Mit geradezu verzweifelter Inbrunst sang die bunte Corona, von der kaum einer getauft war und die praktizierter Religion so fern wie nur möglich stand, ein Weihnachtslied nach dem anderen, mit glühenden Wangen war des Singens und Jubilierens kein Ende. Die Bedeutung dieses Rituals, so merkte man bald, war letztlich das gemeinschaftliche Sich-Vergewissern, dass der reichlich angebotene Champagner und die im Dutzend in der Galerie gekaufte teure Kunst an der Wand als Vorzeichen schatten- und schemenhaft auf etwas hindeuten, von dem die Anwesenden immerhin hofften, jedenfalls in diesem Moment hofften, dass es wahr sein möge: der Sinn hinter allem, die Lösung des Lebens-Rätsels, der Zugang zum wahren Freudenfest, das kein Ende mehr nehmen wird.
Wird es uns, den weniger gewordenen Christen, die sich hierzulande in sinnlosen Strukturdebatten verschleißen, gelingen, diesen Sinn unseren im echten Sinn des Wortes bedürftigen Mitmenschen zu erschließen? Wir Christen müssen ja keine Angst haben, zurückzuschauen, denn von dort leuchtet das Licht der Krippe auf. Aus der Zeit des Mittelalters, die noch innig glauben konnte, kommt Bernhard von Clairvaux, gestorben 1153, und bietet Deutungshilfe an. In einer seiner Adventspredigten spricht er vom dreifachen Kommen des Herrn: „Das dritte Kommen liegt zwischen den beiden anderen. Die zwei sind offen sichtbar, das dritte nicht.“ Bei seinem ersten Kommen war Jesus den Menschen sichtbar, weil er einer von ihnen wurde und mit ihnen lebte. Bei seinem dritten, dem letzten Kommen, „wird alles Fleisch das Heil unseres Gottes schauen“. Aber das mittlere Kommen ist verborgen: „Nur die Auserwählten schauen ihn in ihrem Herzen, und ihre Seelen werden gerettet. Bei der ersten Ankunft kam er im Fleisch und in Schwachheit, bei dieser mittleren kommt er in Geist und Kraft, bei der letzten in Herrlichkeit und Majestät.“ Bernhard weist die Richtung, seinen Worten ist nicht viel hinzuzufügen: „Das mittlere Kommen ist wie ein Weg, auf dem man vom ersten zum letzten gelangt; beim ersten war Christus unsere Erlösung, beim letzten erscheint er als unser Leben, in diesem mittleren Kommen gründen unsere Ruhe und unser Trost.“ Unsere Aufgabe – so einfach und so schwierig – wird es also sein, mit einem wahrhaft beseligten Lächeln, mit einem wissenden Lächeln durch die Rummelplätze des vorweihnachtlichen Verkaufsgalopps zu gehen, fern von jedem Hochmut, aber stets auskunftsbereit von der Freude zu sprechen, die in uns schon lebt und unsere irdische Existenz prägt.
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