Hamburg

Deutschland - Land der moralischen Streber

„Gutmenschentum", „Haltung zeigen" und „deutsches Wesen" gehen derzeit eine gefährliche Gemengelage ein. Ein seltsames moralisches Strebertum macht sich breit. Die Deutschen wollen mal wieder die Welt retten. Die Geschichte lehrt: Das könnte gefährlich werden. 
Klima-Aktivisten demonstrieren
Foto: Soeren Stache (dpa) | Schuldgefühle sind vieler Deutscher liebste Gemütslage: Man demonstriert, dass man eigene Fehler einsieht und gelobt zum Wohle der ganzen Welt vorbildhaft Besserung.

Der Deutsche, wie die Welt ihn liebt, zeigt gern Haltung. Ein beeindruckendes Beispiel hierfür lieferte die ARD unlängst während ihrer Themenwoche "Wie wollen wir leben   bleibt alles anders?" mit einem 90-Minuten-Drama über den "Ökozid". Der preisgekrönte Dokumentarfilmer Andres Veiel inszenierte ein Kammerspiel über ein Klima-Tribunal anno 2034, in dem 31 Staaten der südlichen Hemisphäre den deutschen Staat vor einem Weltgerichtshof verklagen. Der Vorwurf: Versagen in der Klimapolitik und Mitschuld an den Auswirkungen des Klimawandels vor allem auf der Südhalbkugel.  

Obwohl jeder Zeitungsleser wissen kann, dass die mit weitem Vorsprung größten Klimasünder China, die USA und Indien sind und Deutschland mit einem Anteil von gut zwei Prozent an den weltweiten CO2-Emissionen eine marginale Rolle spielt, hält sich hierzulande hartnäckig der Glaube, ein kohlenstoffdioxid-neutrales Deutschland könne die Erderwärmung aufhalten. Von diesem größenwahnsinnigen Schuldgefühl beseelt, tritt im Film die inzwischen 80-jährige Altkanzlerin Angela Merkel vor das Gericht und fordert es auf, Deutschland zu verurteilen, sofern die Richter eines Tages nicht selbst auf der Anklagebank sitzen wollen. Mehr noch: Die Drehbuchautoren verklären die Bitte Merkels um Verurteilung Deutschlands auf Reparationszahlungen zu ihrer dritten grandiosen politischen Leistung   nach dem Atomaustieg 2012 und der Flüchtlingsaufnahme 2015. 

Riskant: die zerknirschte Geisteshaltung vieler Deutschen

Offenkundiger kann ein Film die gegenwärtige Gemütslage im deutschen Mainstream kaum illustrieren. Man könnte meinen, die temperamentsmilden Bundesbürger seien vor allem von einer Leidenschaft entflammt und schwer verliebt in ihr schlechtes Gewissen. Der Berliner Theaterdramaturg Bernd Stegemann hält diese zerknirschte Geisteshaltung für riskant und schreibt im Cicero-Magazin: "Ein Volk von Mitläufern, das dem eitlen Stolz aufs Schuldigsein frönt, ist ebenso unmündig wie die Menschen, die in den vergangenen Jahrhunderten den Klimawandel durch ihre Lebensweise hervorgebracht haben." 

In der Tat ist der zeitgenössische Opportunist von linksdurchtönter Gesinnung. War in der Ära des Dauerkanzlers Helmut Kohl (CDU) die gesellschaftliche Mitte eher liberal-konservativ orientiert, so ist das juste milieu unter der Dauerkanzlerin Angela Merkel (CDU) links-liberal gestimmt. Erkennbar ist diese Veränderung der politischen Großwetterlage etwa an dem Umstand, dass unter Kohl die stockkonservativen Schlesiertreffen von Unionspolitikern besucht wurden und die stete Warnung vor einem Linksdrift der Republik erklang.

„Es sind alarmistische Gesinnungsakrobaten,
von ihren Gegnern als Gutmenschen verhöhnt“

Heute gehen linksextreme Antifa-Gruppen für die Kanzlerin auf die Straße und die politische Elite beschwört allenthalben die Gefahr eines Rechtsrucks. Während der gemeine Mitläufer sich bislang eher unauffällig verhielt und mit anderen eine schweigende Mehrheit bildete, demonstriert der Opportunist der Gegenwart seine Angepasstheit in der Pose des Individualisten, der sich systemkritisch gibt, ein Nichteinverstandensein kultiviert, solange es ihn nichts kostet, und bemüht ist, politisch maximal korrekt die aktuellen Gesinnungsanforderungen zu bestehen. Der Philosoph Norbert Bolz nennt diese Zielgruppe "die Konformisten des Anderssein". 

In seinem neuesten Buch "Die Avantgarde des Angst" (Matthes & Seitz, Berlin) spricht Bolz von einer Kultur der "Warner und Mahner" und von "Feinden der Hoffnung". Zu ihnen gehören "die mediale Angstindustrie, der Katastrophenkonsum und der Entrüstungspessimismus". Mehr und mehr Leute "scheinen eine Art Krankheitsgewinn aus dem Schwarzsehen ziehen zu wollen. Hoffnungslosigkeit verkauft sich gut." Es sind alarmistische Gesinnungsakrobaten, von ihren Gegnern als Gutmenschen verhöhnt. 

Gute Menschen von der schlimmsten Sorte

Diese, so Bolz, "guten Menschen von der schlimmsten Sorte" sind geradezu süchtig danach, Haltung zu zeigen. Die Sozialen Medien bieten die Plattformen, um mit Eichenlaub-Bekenntnissen Zeichen zu setzen und seinen Marktwert als moralisch wohlverorteter Zeitgenosse zu festigen. Bei Facebook ist dies mit wenigen Klicks möglich, indem das Profilfoto mit einer Konfessionsparole verziert wird. 

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Flächendeckend auffällig wurde dieses Schmuckverfahren, als im Januar 2015 in der Redaktion der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo zwölf Menschen von islamistischen Terroristen erschossen wurden und anschließend unzählige Facebook-Teilnehmer den Schriftzug "Je suis Charlie" auf ihr Profilfoto setzen. Heutzutage sind Parolen zu lesen wie: "Wir sind mehr   Aufstehen gegen rechte Hetze", "Kein Milimeter nach rechts", "Wir bleiben Zuhause", "Ohne Kunst und Kultur wird s still" oder "Hypnose macht frei". Ein unverwüstlich archaisches Vertrauen in die Magie des Wortes scheint sich in unsere vorgeblich aufgeklärte Gegenwart gerettet zu haben: Als ob sich alles zum Guten wendet, wenn eine bessere Welt nur intensiv genug beschworen wird. 

„Wenn du nun Almosen gibst,
sollst du es nicht von dir her ausposaunen lassen,
wie die Heuchler es tun“

Dabei ist das Zeichensetzen bereits im Neuen Testament übel beleumundet gewesen. "Alle ihre Werke aber tun sie, damit sie von den Leuten gesehen werden", heißt es bei Matthäus 23,5. Jesus verabscheute Gutmenschen, die sich im Glanz ihrer Lippenbekenntnisse und Wohltätigkeiten sonnten. Frömmler, die ihre Tugendhaftigkeit zu Markte tragen, wurden von Heiland verwünscht: "Wenn du nun Almosen gibst, sollst du es nicht von dir her ausposaunen lassen, wie die Heuchler es tun, damit sie von den Leuten gepriesen werden. Wenn du Almosen gibst, soll die linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, damit dein Almosen im Verborgenen geschieht; und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir öffentlich vergelten." (Matthäus 6, 2-3) 

Ein neuer Wortsinn von Schildbürgern macht sich breit, die mit Gratismut Persönlichkeits-PR betreiben. Dass ihr ausdauerndes Zeichensetzen mitunter von lückenhaften Interpunktionskenntnissen begleitet wird, passt zu den verlässlichen Bildungsdefiziten eines Menschenschlages, der sich lieber von gefühlten als von überprüfbaren Fakten überzeugen lässt. Schon der Ausdruck "Haltung zeigen!", der durch einen unvergesslichen Tagesthemen-Kommentar der Panorama-Moderatorin Anja Reschke ins öffentliche Bewusstsein und drei Jahre später in einem gleichnamigen Buch von ihr zu voller Blüte gelangte, ist ironischerweise eine Kampfparole aus der Nazi-Zeit. 

In der Sprache des Dritten Reiches „Haltung zeigen“

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In seinem Buch "Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss" (Gütersloher Verlagshaus) gräbt der Publizist Alexander Kissler eine Schrift  des Aachener Pfarrers Friedrich Grünagel von 1934 aus   mit dem Titel "Haltung statt Hetze!" Darin rühmte der protestantische Geistliche den Führer und plädierte für die "Möglichkeit einer evangelischen Kirche im Dritten Reich" durch eine "innere Verbindung von Volkstum und Glaube". Denn, so Grünagel, wer "die neue Staatsführung wie den Satan hasse, versündige sich am Protestantismus, darum Haltung statt fanatische Hetze!" 

Dass ausgerechnet eine öffentlich-rechtliche Tugend-Kommissarin wie Reschke, die peinlich auf politische Korrektheit achtet und jeglichen semantischen Anklang an die Lingua Tertii Imperii, wie Victor Klemperer die Sprache des Dritten Reiches nannte, skandalisiert, sich, wenn auch wohl unwissentlich, just in dieser Begriffskiste vergreift, ist das Zufall? Eint die arischen Herrenmenschen von damals und die moralischen Auserwählten von heute etwa der Dünkel, etwas Besonderes zu sein und die Welt am deutschen Wesen genesen lassen zu wollen? Man kann sich nur fröstelnd wundern und staunen. 

Vermeintliche Sicherheit: Eindeutigkeit in uneindeutiger Welt

Aber ist deshalb Haltung und Gesinnung wertlos geworden? Ist das Gute durch die Borniertheit der Gutmenschen diskreditiert? Keineswegs, meint der Freiburger Philosoph Andreas Urs Sommer, der  mit dem Schriftsteller Matthias Politycki das Buch verfasste: "Haltung finden. Weshalb wir sie brauchen und trotzdem nie haben werden" (J.B. Metzler). Sommer nennt die Gesinnung "das große Versprechen, dass es noch etwas Felsenfestes, Unverrückbares, einfach Gegebenes gebe und sei es nur in meinem ureigensten Inneren". Wer dieser Verheißung aufsitze, "lechzt nach Eindeutigkeit in einer uneindeutigen Welt". Sommer schlägt stattdessen eine "Haltungsethik" vor, "die nicht versucht, die Welt dogmatischen Weltbildern anzupassen, sondern sich ergebnisoffen und antwortbereit zeigt". 

Genau eine solche tänzelnde und doch schrittfeste Haltungsethik verweigern die Ideologen der Selbstgewissheit, die selbsternannten Verteidiger von Vielfalt und Demokratie, die die Meinungskorridore verengen und Abweichler und Fragesteller als Neue Rechte, Rassisten und Sexisten denunzieren. Derartige Eliten in Politik und Medien beschädigen unsere Demokratie weitaus mehr als ein paar Narren auf der Straße und in den Parlamenten. 

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