Als Anton Bruckner seine bis heute aus dem geistlichen Chorrepertoire nicht wegzudenkende Komposition „Locus iste“ schuf, wählte er den Text „Locus iste, a deo factus est, inaestimabile sacramentum, irreprehensibilis est – Dieser Ort ist von Gott geschaffen, ein unschätzbares Geheimnis, kein Fehl ist an ihm“ keineswegs zufällig. Denn der Auftrag des Musikers war es, eine Motette für gemischten Chor a capella, also ohne Begleitung von Instrumenten, für die Einweihung der Votivkapelle des neuen Linzer Domes am 29. Oktober 1869 zu schreiben. Das Werk steht damit in einer ganzen Reihe von Auftragskompositionen für die Linzer Kathedrale, die mit der Festkantate „Preiset den Herrn“ beginnt, die Bruckner auf Bitten seines konservativen, sich für ihn bald zu einer bedeutenden, seine spirituelle und künstlerische Entwicklung fördernden Vaterfigur entwickelnden Bischofs Franz-Josef Rüdiger auf einen Text von Maximilian Pammesberger schrieb.
Der Text führt in das Geheimnis heiliger Orte ein, das zu den religionsübergreifenden Menschheitserfahrungen gehört. Bereits im Alten Testament findet sich das Erleben der Berührung von Himmel und Erde. Beispielhaft hierfür steht die Geschichte Jakobs, der auf dem Weg von Beerscheba zu seinem Onkel nach Haran eines Nachts die berühmte Traumvision einer Leiter hat, die von der Erde bis in den Himmel reicht, auf der Engel auf- und niedersteigen und an deren Spitze Gott selbst steht und ihm Land und Nachkommen verspricht, was zugleich für ein Zuhause und eine Form des irdischen Weiterlebens steht. Wieder erwacht sagt Jakob: „,Wirklich, der Herr ist an diesem Ort und ich wusste es nicht.‘ Furcht überkam ihn, und er sagte: ,Wie ehrfurchtgebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels.‘“ (Gen. 28,16-17) Es ist die Erfahrung der Gegenwart Gottes, die Jakob bewegt, einen Altar zu errichten und die den Ort seines Traumes für künftige Generationen zu einem heiligen Ort macht. Die Genesiserzählung gilt zu Recht als Ursprungserzählung für die Errichtung heiliger Räume. Wie weit die Wirkung der Jakobsgeschichte reicht, zeigt der gregorianische Introitus „Terribilis est locus iste“ aus der Commune zum Jahrestag des Kirchweihfestes, dem die Verse 17 und 22 der Erzählung von der Jakobsleiter zugrunde liegen. Dasselbe gilt für das Graduale zum Kirchweihfest, dessen Text Anton Bruckner als Basis seiner Chormotette wählte, die er am 11. August 1869 fertigstellte. Der tiefgläubige und mit dem Gregorianischen Choral vertraute Komponist webte die Töne zu seinem Werk ebenso folgerichtig als zeitgenössisches Klanggewand um die vertrauten heiligen Worte, wie der neue Kirchbau des Linzer Domes das uralte Geheimnis des Glaubens als steinernes Zeugnis verkündend und dem lebendigen Wort Gottes in sich Raum gebend, in aktueller Formensprache entstand.
„Es ist ein so schlichtes wie ergreifendes Stück Musik, das später wegen der für den Chor leicht zu bewältigenden technischen Anforderungen sehr beliebt wurde und bis heute oft zu hören ist, insbesondere an Kirchweihfesten“, schrieb der Schweizer Publizist und Schriftsteller Iso Camartin am 22. Februar 2008 in der Züricher Zeitung in seinem Beitrag „Dieser Ort: Anton Bruckner und Jakobs Traum von der Himmelsleiter“. Ein Fehlurteil, denn „Locus iste“, das Anton Bruckner seinem Wiener Schüler Oddo Loidol zueignete und gemeinsam mit den Motetten „Christus factus est“, „Os justi“ und „Virga Jesse“ veröffentlichte, ist zwar ein überaus ergreifendes und vielgesungenes Werk, aber es ist weder schlicht noch einfach. Ganz im Gegenteil. Selbst versierte Chöre scheitern am Übergang vom schwebend hymnischen Anfangsteil des Werkes zum harmonisch erheblich herausfordernden, weil mit herben Dissonanzen beginnenden „irreprehensibilis est“, der äußerste Intonationssicherheit verlangt, um seine Wirkung entfalten zu können. Eher schon ähnelt die Chormotette einer seltenen, kostbaren Perle, die bei jeder Betrachtung eine neue Facette enthüllt.
Als Bruckner das „Locus iste“ komponierte, konnte er auf eine 13jährige Amtszeit als Domorganist in Linz zurückblicken. Es ist typisch für den bescheidenen Musiker, dass er sich gar nicht um die Stelle beworben hatte, dann als nicht gemeldeter Außenseiter am Auswahlverfahren teilnahm und durch seine Mischung aus einer Grundhaltung des sentire cum ecclesia und brillanter improvisatorischer Virtuosität überzeugte. Neben seiner Tätigkeit als Domorganist bildete er sich bei Simon Sechter und Otto Kitzler im Fach Komposition weiter und studierte die Werke anderer Komponisten, darunter die von Hector Berlioz, Franz Liszt, Ludwig van Beethoven, Robert Schumann, Felix Mendelssohn Bartholdy und vor allem der von Bruckner so verehrte Richard Wagner.
Als 1868 durch den Tod Simon Sechters dessen Lehrstuhl für Musiktheorie und Orgelspiel am Wiener Konservatorium frei wurde, wechselte Bruckner in die Landeshauptstadt, blieb aber, wie der Kompositionsauftrag angesichts des Neubaues zeigt, mit dem Linzer Dom in gutem Kontakt. 1869 war ein überaus geschäftiges Jahr für den Komponisten. Er richtete sich in seinem neuen Wirkungskreis in Wien ein, spielte das Orgelweihkonzert in St. Epvre in Nancy und konzertierte einige Tage später in Anwesenheit seiner Kollegen Camille Saint-Saens, César Franck und Charles Gounod in Notre Dame in Paris und präsentierte in seiner alten Wirkungsstätte in Linz neben der Uraufführung des „Locus iste“ seine ebenfalls neu komponierte Messe in e-Moll, die ebenfalls zu einer Teileinweihung des diözesanen Kathedralbaues erklang.
Stilistisch ordnet sich die Chormotette „Locus iste“ ganz in die ganz eigene, sehr persönliche Klangwelt ein, die Anton Bruckner, einmal entwickelt, konsequent und von zeitgenössischen Strömungen unbeeinflusst entfaltet hat. Der ruhige, homophone Beginn des in der ABA-Form konzipierten etwa dreiminütigen und 48 Takte umfassenden Werkes erinnert, wie Max Auer in seiner Würdigung des kirchenmusikalischen Schaffens Bruckner zu Recht erwähnt, an Wolfgang Amadeus Mozarts Chormotette „Ave verum“, wird aber in Bruckners ureigenem Idiom fortgeführt. Ähnlich wie in seinen Sinfonien sind auch beim „Locus iste“ die Proportionen des Werkes ein Schlüssel zu seinem Verständnis und seiner Interpretation. Eindrucksvoll ist beispielsweise, wie er das tiefe, staunende Schweigen in einer fünf Schläge umfassenden Pause vor dem letzten, bekräftigenden „A Deo factus est“ in seine Komposition einbindet. Bruckner lässt in seinem „Locus iste“ hörbar werden, was die Kirche ausmacht und was christliche Kirchen so grundlegend von heiligen Orten anderer Religionen unterscheidet. Denn Kirche ist überall dort, wo zwei oder drei in Jesu Namen beisammen sind und er mitten unter ihnen ist.