Gottesfurcht

Christliche Gottesfurcht: "Der unerlässliche Ausdruck der Demut"

Christliche Gottesfurcht ist unbedingt positiv und vertreibt menschliche Ängste. Ein Gespräch mit dem Münchner Pastoraltheologen Andreas Wollbold.
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Foto: Adobe stock | "Christliche Gottesfurcht vertreibt alle Menschenfurcht. Sie schraubt die großen Ängste auf ein notwendiges, nüchternes Maß zurück, vermeidet Alarmismus und leitet zu vernünftigen Problemlösungen an", meint Andreas ...

Herr Professor Wollbold, wie verstehen Sie das Schriftwort aus dem Weihnachtsevangelium "Fürchtet Euch nicht"? Welchen Grund hatten die Hirten zur Furcht?

Die Furcht der Hirten auf den Feldern von Bethlehem ist durch den Einbruch der himmlischen Welt mitten in der Nacht ausgelöst. Das ist urreligiös: Wo Gott sich zeigt, erzittert der Mensch. Das ist das "tremendum", das Furchterregende an Gott, das Rudolf Otto so eindrucksvoll in Erinnerung gerufen hat. Instinktiv spürt der religiöse Mensch: Wo Gott naht, ist alles möglich, und das habe ich nicht mehr in der Hand. Ohnmacht, Ausgeliefertsein, unbedingte Abhängigkeit werden wachgerufen. Insofern ruft die Begegnung mit dem Übernatürlichen immer auch jene Furcht hervor, wie sie Thomas von Aquin so treffend definiert hat: "Furcht bezieht sich auf ein anstehendes Übel, das die eigene Macht überragt." Umso wichtiger ist die frohe Botschaft der Engel an die Hirten: "Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll" (Lukas 2,10). Auch wenn sich der Mensch wie diese Hirten auch weiterhin klein und ausgeliefert vorkommen wird, von nun an soll er wissen: Was auch immer durch Gottes Hand geschehen wird, es wird die Freude wachsen lassen. Und diese große Freude an Gottes Großtat von Bethlehem haben die Künstler aller Zeiten auf den Gesichtern der Hirten an der Krippe gesehen.

"Wo Gott naht, ist alles möglich, und das habe ich
nicht mehr in der Hand. Ohnmacht, Ausgeliefertsein,
unbedingte Abhängigkeit werden wachgerufen"

Die Kirchenväter empfehlen die Gottesfurcht als innere Haltung des Getauften. "Ganz durchdrungen von Gottesfurcht" ist ein Qualifikationsmerkmal der alten Kirche, das in der Benediktsregel dem reifen Mönch zuerkannt wird. Gottesfurcht gehört für Benedikt auch zur ersten Stufe der Demut. Warum?

"Die Furcht des Herrn ist Anfang der Erkenntnis, nur Toren verachten Weisheit und Erziehung" (Sprüche 1,7). Die Freudenbotschaft von Weihnachten ist kein Friede, Freude, Eierkuchen. Wie die Hirten gilt es, alles stehen und liegen zu lassen und zur Krippe zu eilen. Das Leben muss also eine neue Richtung bekommen. Alles muss dem Herrn zu Füßen gelegt werden, und wenn es auch nur ein wenig Milch und Käse ist. Wer etwas von der großen Freude im Herrn weiß, wird sich den Händen Gottes anvertrauen. Er wird sich der "Weisheit und Erziehung" des Herrn nicht verweigern. Christliche Gottesfurcht besteht somit nicht mehr in der Angst vor einem unberechenbaren, grausamen Gott. Aber sie weiß um die eigene Sünde, die Schwachheit, die Gefährdung des Lebens für den Herrn. Kurz, Gottesfurcht ist der unerlässliche Ausdruck der Demut.

Welche zeitgemäßen Ausdrucksformen der Gottesfurcht befürworten Sie?

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Der Mensch ist heute kein anderer als vor 2.000 Jahren, und darum können wir von allem lernen, was Christen aller Zeiten authentisch gelebt haben. Momentan scheint mir da am wichtigsten, die grassierende Selbstgerechtigkeit zu erschüttern. Die Chinesen stellen das Jahr unter ein Tier, also das Jahr des Hasen, des Tigers usw. Wir Westler könnten ein ganzes Jahrzehnt als Jahre des Pharisäers benennen, "der von seiner eigenen Gerechtigkeit überzeugt war und die anderen verachtete" (Lukas 18,9). Wenn einer nur bei den tonangebenden Mehrheiten mitschwimmt, meint er, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Und bei der Moral gilt alles als richtig, was man nur selbstbestimmt tut. Von Demut ist da keine Spur mehr. Dagegen ist christliche Gottesfurcht das einzige Heilmittel. Sie lässt den Gedanken in Fleisch und Blut übergehen, dass es gilt, Gottes Willen zu erfüllen. Selbstüberschätzung, Selbstbetrug oder auch offene Sünde gehören zu den treuesten Begleitern jedes Menschen, ganz zu schweigen von den Listen des Teufels, die immer viel schlauer sind als die eigene Fähigkeit, sie zu durchschauen. Da hilft nur das demütige Bekenntnis des Zöllners: "Gott, sei mir Sünder gnädig!"

"Wenn einer nur bei den tonangebenden Mehrheiten
mitschwimmt, meint er, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben"

Die digitalisierte Gesellschaft hat mehr Möglichkeiten als unsere Vorfahren, um sich von Sorgen und Befürchtungen abzulenken. Welche Chance steckt in der Furcht?

Ja, ganz recht. Blaise Pascal hat scharfsinnig erkannt, die Zerstreuung ist der größte Feind des inneren Menschen. Wenn er immer im Zustand der Ablenkung, der Erregung durch äußere Dinge, durch das Immer-Neu oft nichtiger Ereignisse gebannt ist, geht er nie in sich und begreift nicht, worauf es wirklich ankommt. Gottesfurcht bremst all dies aus, gleichsam wie eine Notbremse: Halt, aufwachen! Gott wartet auf dich, und du merkst es gar nicht!

Der Münchner Pastoraltheologe Andreas Wollbold
Foto: IN | Der Münchner Pastoraltheologe Andreas Wollbold.

Trotz unseres immensen Wohlstands dominiert die Angst in den Nachrichten: Die Menschen fürchten sich vor dem Wohlstandsverlust, Klima- und Energiekrise, Krieg, et cetera. Welche Haltung wäre aus christlicher Sicht angemessen?

Christliche Gottesfurcht vertreibt alle Menschenfurcht. Sie schraubt die großen Ängste auf ein notwendiges, nüchternes Maß zurück, vermeidet Alarmismus und leitet zu vernünftigen Problemlösungen an. Es ist kein Zufall, dass seit einigen Jahren die Megathemen der Politik alle mit Ängsten arbeiten, ja durch massive Drohbotschaften zur Gefolgschaft drängen. Alles, was man der katholischen Kirche vorgeworfen hat, feiert im Neuheidentum Urständ: Absolutheitsanspruch, Intoleranz, Ausgrenzung und eben Angstmache. Wie befreiend ist da das Wort Jesu: "Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können, sondern fürchtet euch eher vor dem, der Seele und Leib in der Hölle verderben kann!" (Matthäus 10,28).

"Christliche Gottesfurcht vertreibt alle Menschenfurcht.
Sie schraubt die großen Ängste auf ein notwendiges,
nüchternes Maß zurück, vermeidet Alarmismus
und leitet zu vernünftigen Problemlösungen an"

Welches Instrumentarium geben Schrift und Tradition den Christen in die Hand, um den Umgang mit der Furcht zu lernen?

Klassisch ist die Hierarchie der Güter. Alles so wichtig nehmen, wie es wirklich wichtig ist. Gott, sein Gebot und sein Wille stehen dabei an oberster Stelle. Wer Gott verliert, der verliert alles. Wer das begriffen hat, wird allen anderen Bedrohungen und Verlusten viel gelassener gegenüberstehen. Wunderbar ist die Antwort des heiligen Martin auf einen Räuber, der ihn überfallen, gefesselt und mit dem Tode bedroht hat und ihn nun fragte, ob er sich denn nicht in großer Furcht befinde. "Nein, ich war nie so sicher, denn Gottes Erbarmen ist in der Not am größten!" Gott also steht an der Spitze der Güterpyramide. Danach kommen die inneren Güter, und zwar zuerst die geistigen wie Erkenntnis, Bildung, Liebe und Treue und danach die körperlich-sinnlichen wie Gesundheit, Spaß am Leben und Glücksmomente. An unterster Stelle stehen äußere Güter wie Besitz und Ansehen.

Ist die Furcht - aus pastoralpsychologischer Sicht - eher positiv oder negativ besetzt?

Christliche Gottesfurcht ist nach allem Gesagten unbedingt positiv. Freilich bleibt sie wie alles Menschliche auch gefährdet. Sie kann in Skrupulanz umschlagen oder auch in eine Überbewertung bestimmter Frömmigkeitspraktiken. Unter dem Gewand der Gottesfurcht kann auch einfach eine persönliche Ängstlichkeit oder Zwanghaftigkeit auf andere übertragen werden. Dann ist die große Freude des Christen nicht mehr spürbar.

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In Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht "Am Weihnachtstage" späht der Schriftgelehrte "mit finstren Sorgen" in die Heilige Nacht und kehrt schließlich in der irrigen Annahme, der Stern von Bethlehem sei ein Meteor, zu seinen Büchern zurück. Deutet die Theologie das Weihnachtsgeheimnis heute zu verkopft?

Ja, dieser Schriftgelehrte sorgt sich gerade darum, "wann Judas mächtiger Tyrann erscheint". Er hört nicht die Freudenbotschaft der Engel, weil er den Kopf zu voll hat mit eigenen Vorstellungen. Ohne wirkliche Gottesfurcht, also ohne ein offenes Herz, das sich von Gott belehren lässt, "hat er Augen, um zu sehen, doch er sieht nicht." Denn er hat sich eingerichtet inmitten seines "Hauses der Widerspenstigkeit" (Ezechiel 12,2). Das ist und bleibt eine Mahnung an alle Theologie: nicht wirklich hinzuschauen auf das Große, das Unbegreifliche, das allen menschlichen Sinn Überragende, das Gott uns in der Menschwerdung seines Sohnes bereitet hat, sondern es bemessen zu wollen nach menschlichem Maß. Doch Meteore fallen rasch nach unten und verglühen, das Licht von Bethlehem aber leuchtet in der Höhe und es bleibt in Ewigkeit.

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