Jeden morgen, wenn ich nach dem Aufstehen aus dem Fenster blicke, könnte ich mich gleich ein wenig achtsamer fühlen. Denn vom Garten meiner Nachbarn aus lächelt mich eine Buddhastatue an. Gleichmütig sitzt sie da, eine Lotusblüte im Schoß. Meine Nachbarn sind eine nette, junge Familie – gewiss keine praktizierenden Buddhisten. Sie haben die Statue wahrscheinlich nicht aus einem thailändischen Kloster, sondern aus dem Baumarkt oder dem Gartencenter. Dort gibt es solche Statuen zu kaufen. Der Erleuchtete als postmoderne Version des Gartenzwerges?
Der große Markt „Spiritualität“ ist in Deutschland nun mal überwiegend von östlichen Religionen oder ihren handlicheren Lightversionen geprägt. Als ich eines morgens einmal wieder in den Garten meines Nachbarn blickte, fiel mir ein, woran es vielleicht liegen könnte, dass Buddha in ist, doch die Kirchen leer. Er sieht nämlich tatsächlich entspannt aus, wie er da sitzt. Irgendwie im Frieden mit sich selbst und der Welt. Achtsamkeit, Loslassen und innere Gelassenheit: sind das nicht Haltungen, von denen wir wirklich mehr gebrauchen könnten?
„Falsch ist die Vorstellung, im Christentum gehe es primär um die guten Werke
und das Für-Wahr-Halten von gewissen Lehren“
Die westliche Welt ist von einer großen Betonung des Intellekts und der Leistung geprägt. Genau das hat den Westen auch fortschrittlich und erfolgreich gemacht. Glaubt man dem Soziologen Max Weber, so hat ausgerechnet das Christentum (besonders in seiner protestantischen Ethik) beides befördert. Die meisten Menschen bei uns würden wohl die Einschätzung teilen, im Christentum gehe es in erster Linie darum, sich moralisch gut zu verhalten und an irgendetwas zu glauben. Überspitzt ausgedrückt: es geht primär um den Kopf und um Leistung. Doch genau darum geht es in der Gesellschaft ohnehin schon übermäßig. Aufklärung und Industrialisierung haben beides ins Extreme überhöht. Wirkt die östliche Spiritualität deshalb so anziehend, weil darin nicht alles so verkopft ist? Entspannung statt Leistung? Eine solche Sicht auf den Buddhismus ist oberflächlich.
Falsch ist die Vorstellung, im Christentum gehe es primär um die guten Werke und das Für-Wahr-Halten von gewissen Lehren. Es geht zuerst um eine Erfahrung mit dem Heiligen, um das Ergriffen-werden von Gott. In der Begegnung mit Jesus geschieht Verwandlung, ja eine Umgestaltung des inneren Menschen. Christentum als mystischer Pfad zur Transformation: klingt das nicht bereits esoterisch? Doch es ist genau das, was die Lehrer des geistlichen Lebens stets betonten. Statt sich über Buddhas im Baumarkt zu ärgern, stünde es Christen besser zu Gesicht, die mystischen Wurzeln des eigenen Glaubens neu zu entdecken.
Jesus war kein Europäer
Europa wurde groß durch die Betonung von Verstand und Schaffenskraft, doch Jesus war kein Europäer. Dass es Momente gibt, in denen es ums Schweigen und Niederknien geht. Dass es mehr um die Veränderung des Herzens geht als um äußeres Befolgen von Regeln. Dass diese Veränderung in der Begegnung geschieht und geschenkt wird: das wäre ein Gegenmittel zur typisch westlichen Verstandes- und Leistungsüberhöhung. Wenn sie mich daran erinnert, hätte auch die Buddhastatue in Nachbars Garten eine positive Funktion erfüllt.
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