Anders als bei Rom, Paris oder Wien: Brüssel muss man erst kennenlernen, um es zu mögen. Vielleicht ist der schlechte Ruf dieser Stadt die erste Voraussetzung dafür, positiv überrascht zu werden. Mit Herablassung schauen manche auf Brüssel und stellen sich eine kühle, chaotische und kriminelle Großstadt vor, die ausschließlich aus Bürokraten und Migranten besteht. Bislang schaffte ich es, jeden meiner Gäste vom Gegenteil zu überzeugen: Brüssel ist eine charmante und lockere Stadt, in der es sich gut lebt.
Die Besonderheit Brüssels liegt bereits darin, dass es keine homogene Großstadt ist. Die eigentliche „Stadt Brüssel“ ist mit ihren 180 000 Einwohnern nur eine der 19 Gemeinden der gesamten Region Brüssel-Hauptstadt. Die Gemeinden mit jeweils einem eigenen Rathaus und „Zentrum“ haben auch ein eigenes Flair. Nicht die von Touristen bewunderten Denkmäler oder die „rush hour“ vor den Büros der Europäischen Kommission am Schuman-Platz sind das, was Brüssel ausmacht, auch wenn sie selbstverständlich zu diesem bunten Mix dazugehören. Die schmalen Gassen in Ixelles oder lebendige Plätze in St. Gilles haben die Stimmung, die ich als für Brüssel typisch bezeichnen würde: gemütliche Kneipen und Cafés, viele Familien mit Kindern sind hier unterwegs, man spürt entspanntes Leben.
„Brüssel ist ein Konzept, das aufgrund der unterschiedlichen Lebensweisen
und kulturellen Einflüssen eigentlich nicht funktionieren sollte – doch es funktioniert“
Wenn auch die Stadt als zweisprachig gilt, hört man überall fast ausschließlich Französisch. Die internationale Ausrichtung Brüssels sorgt aber dafür, dass man sich sowohl an der Kasse bei „Carrefour“ als auch in den Restaurants auf Englisch verständigen kann. Anders als in Paris wird man dafür nicht schief angeschaut. Das Beste an Brüssel: man wird überhaupt nicht schief angeschaut. Selbst wenn man an einem regnerischen Tag Flip-Flops und einen Pelzmantel anziehen würde. „Jedem das Seine“ wird hier konsequent gelebt.
Der Spaziergang beginnt an einem sonnigen Morgen in der Avenue Brugmann, wo sich drei Gemeinden verbinden: St. Gilles, Ixelles und Forest. Ein wildes Durcheinander aller Verkehrsmittel findet statt. Straßenbahn, hupende Autos, Lastenräder samt Kinder und Hunde, E-Roller. Eine neogotische Kirche „Notre-Dame de la Providence“ bietet Schutz vor Lärm und Hektik. Nicht nur den Kirchenbesuchern, sondern auch ein paar Obdachlosen, die es sich dort gemütlich machen. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages fallen auf den Tabernakel. Ein paar Minuten des stillen Gebets folgen.
Croissant und einen Cappuccino mit Ausblick auf die Straße und Kirche
Eine tägliche Morgenmesse findet ebenso statt, aber aufgrund der geringen Besucheranzahl nicht in der Kirche, sondern in der kleinen Kapelle eines Nachbarhauses, wo der Pfarrer – ein alter italienischer Pater – auch wohnt. Der Weg führt weiter zu einem der schönsten Plätze von Ixelles, dem Brugmann-Platz. Die kleinen Vintage-Läden und Cafés machen auf. Meine Eltern, denen ich zum ersten Mal Brüssel zeige, begleiten mich bei diesem Spaziergang. Ein modernes Café bietet die Möglichkeit, das warme Croissant und einen Cappuccino mit Ausblick auf die Straße und Kirche zu genießen.
Nach dem Flanieren und Genießen des wunderschönen Herbstmorgens, bemerken wir, dass die Handtasche meiner Mutter samt Portemonnaie und der Flugtickets fehlt. Meine Mutter erinnert sich, dass sie die Handtasche auf einem Stuhl in der Kirche liegen gelassen hat. Doch: Beim Bild der „Mutter der Vorsehung“ kann sie ja nicht verschwunden sein, war ich mir sicher. In der Kirche angekommen, fanden wir die Handtasche aber nicht mehr. In dem Moment sah ich den italienischen Padre, der gerade die Kirche verließ. Mit meinem bescheidenen Französisch erklärte ich ihm die Situation. Er rief sofort jemanden an und nach einigen Sekunden zeigte er mit dem Daumen nach oben. Die Handtasche wurde samt Bargeld und Dokumenten gefunden. Danke, Mutter der Vorsehung! Dank dem ehrlichen Finder.
Das Europaparlament ist nicht gerade ansehnlich
Wir setzen unseren Spaziergang fort und wollen das Stadtzentrum sehen. Die Gelegenheit bietet sich an, beim Place de Luxembourg anzuhalten und das nicht sonderlich prachtvolle Gebäude der Europaparlaments zu sehen. An einem Donnerstag der sogenannten „Straßburg-Woche“, in der die Plenarsitzungen des Parlaments in Straßburg stattfinden, ist hier nicht viel los. Ein paar kleine Gruppen bewegen sich in Richtung des EU-Parlaments oder in die naheliegenden Bars und Restaurants, die als „verlängerte“ Besprechungszimmer des Parlaments gelten.
Der Weg führt am Königspalast und den historischen Plätzen entlang weiter. Unser Ziel ist die Kirche St. Michael und Gudula. Die Hauptkirche Brüssels trägt seit 1962, als sie zum Bischofssitz erhoben wurde, den Titel einer Kathedrale. Sie ist auch die Nationalkirche des Königreichs Belgien. Königliche Hochzeiten, Staatsbegräbnisse oder der Gottesdienst zum Nationalfeiertag finden hier statt. Das beeindruckende Portal und die zwei Türme erinnern an Notre Dame de Paris, nur etwas größer. In der Kirche befinden sich Gruppen von Touristen, eine sakrale Musik wird abgespielt. Bilder vom früheren König Baudouin, wie auch dem jetzigen König der Belgier, Philippe, und seiner Gattin, der Königin Mathilde, schmücken die Wand rechts vom Eingang. Die Architektur verbindet mehrere Stilrichtungen vom 11. bis zum 15. Jahrhundert: von der Romanik bis zur Renaissance zur Brabanter Gotik. Europa und das Abendland – aus Orten wie diesen gingen sie hervor.
Einer der schönsten Plätze Europas: der „Grote Markt“
Es wäre kein echter Besuch Brüssels, wenn man den „Grande Place“ oder „Grote Markt“ auslassen würde. Der zentrale Platz der belgischen Hauptstadt mit dem gotischen Rathaus und seiner geschlossenen barocken Fassadenfront gilt als einer der schönsten Plätze Europas. Die Fassaden mit ihrem reichen Skulpturenschmuck und viel Gold orientieren sich am italienischen Barock mit flämischen Einflüssen: das Ergebnis ist beeindruckend. In einem der Zunfthäuser „Au Roi d´Espagne“ (Zum König von Spanien), lassen wir in einem historischen Restaurant den Abend ausklingen. Ein belgisches Bier und „Moules Frites“ (im Topf servierte Miesmuscheln in Gemüsesud, die mit Pommes Frites serviert werden) mit Ausblick auf das Rathaus zu genießen, gefällt allen Gästen. So auch mir, als mir vor einigen Jahren die Stadt zum ersten Mal gezeigt worden ist.
Brüssel ist ein Konzept, das aufgrund der unterschiedlichen Lebensweisen und kulturellen Einflüssen eigentlich nicht funktionieren sollte – doch es funktioniert. Es ist exakt wie beim hiesigen Straßenverkehr: es gelten kaum irgendwelche Regeln, aber jeder weiß, was zu tun ist. Der Blickkontakt und die Kunst, sich im rechten Moment durchzusetzen oder nachzugeben, ersetzen alle Verkehrsschilder.
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