Wenn wir wahren Frieden in der Welt erlangen wollen, müssen wir bei den Kindern anfangen“, wusste schon Mahatma Gandhi. Darauf baut nun auch die Katholisch-Theologische Fakultät Graz: Drei Jahre lang sollen katholische und muslimische Schüler im Großraum Graz ergänzend zum regulären konfessionellen Religionsunterricht in einem Zeitfenster von drei bis fünf Wochen von ihren jeweiligen Lehrkräften gemeinsam unterrichtet werden. Dazu geht ein Team von katholischen wie muslimischen Religionspädagogen an verschiedene Schulen – von der Volksschule über die Mittelschule bis zum Gymnasium – und beobachtet, filmt und analysiert das Verhalten der Schüler in der interreligiösen Lernsituation.
Interreligiöses Lernen
Die Erkenntnisse über die Möglichkeiten und Grenzen interreligiösen Lernens, die aus der Beobachtung und den Gesprächen mit den Schülern hervorgehen, sollen in die Ausbildung künftiger Lehrkräfte einfließen. „Im Grunde wollen wir – aus der Perspektive der Wissenschaft – aus der Praxis, die sowieso schon ein Stück weit vorhanden ist, der Theorie organisatorisch ein Gesicht geben, damit man den interreligiösen Unterricht erforschen und diese Erkenntnisse dann wieder in die Weiterentwicklung der Praxis einfließen lassen kann“, erklärt der Initiator und Leiter des Projekts, Professor Wolfgang Weirer, Religionspädagoge an der Katholisch-Theologischen Fakultät Graz, im Gespräch mit der „Tagespost“.
Zunächst sollte das Projekt Anfang Februar starten, da aber wochenlang nur online-Unterricht in Österreich stattfand und die Schüler erst jetzt wieder in den Präsenzunterricht gehen, verzögerte sich der Start. Wann die Rahmenbedingungen dafür ausreichend sein werden, kann bisher niemand sagen. Finanziert wird das Tandemprojekt vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF mit knapp 400 000 Euro. Die Förderung werde nahezu ausschließlich für die Personalkosten der Projektmitarbeiter eingesetzt, so Weirer. Für die wissenschaftliche Erforschung der interreligiösen Zusammenarbeit seien fünf Personen zuständig, die die Lehrpersonen vorbereiten, den Unterricht begleiten, die Ergebnisse auswerten und Dissertationen über das Forschungsprojekt schreiben.
Religionsverbindende Projekte seit 2002
Vorbild für den interreligiösen Unterricht, der den konfessionellen an den Schulen für jeweils drei bis fünf Wochen ersetzt, sollen bisherige Pilotprojekte sein. Denn die Idee des interkonfessionellen und interreligiösen Unterrichts ist in Österreich nicht neu: Wie die Amtsleiterin des Schulamtes der Erzdiözese Wien, Andrea Pinz, gegenüber dieser Zeitung erklärt, gibt es bereits seit 2002 religionsverbindende Projekte. In Wien etwa gebe es das Modell „KoKoRu“, einen kooperativ-konfessionellen Religionsunterricht, in dem unterschiedliche Konfessionen zusammenarbeiten. In dem dialogisch-konfessionellen Rahmen gebe es auch immer wieder verbindende Elemente mit dem islamischen Religionsunterricht.
Auch das Forschungsteam der Universität Graz konnte bereits an fünf verschiedenen Schulen Erfahrungen im Bereich interreligiösen Lernens sammeln, auf denen das dreijährige Projekt nun aufbauen soll. Besonders wichtig sei bei dem Konzept des Teamteachings, bei dem zwei Lehrkräfte gemeinsam unterrichten, dass die muslimische und die katholische Lehrkraft gut miteinander kommunizieren, denn „das Miteinander hat einen Präzedenzcharakter für Schüler: Wie kann man über die eigene Religion im Angesicht eines Vertreters einer anderen Religion im Gespräch sein?“, so Weirer.
Eine Welt der Vielfalt
Doch interreligiöse Kompetenzen spielen aktuell weder in der Ausbildung katholischer noch islamischer Lehrkräfte eine große Rolle. Voraussetzung für die Teilnahme an dem Projekt sei allerdings, dass beide Lehrpersonen bereits Erfahrungen in interreligiösen Projekten hätten. Auch Gespräche über die Haltungen, die daraus resultieren sollen, werden im Vorfeld mit den Pädagogen geführt. In erster Linie geht es Weirer um die „Pluralitätsfähigkeit“ der Schüler. „Es ist so, dass – im Unterschied zur Situation vor 30, 40 oder 50 Jahren – unsere Schüler heute in einer Welt der Vielfalt aufwachsen: der weltanschaulichen, ethischen, aber auch religiösen Vielfalt. Deshalb sind wir überzeugt, dass religiöse Bildung zusätzlich zu allem, was bislang wichtig war und bleibt, auch den Auftrag hat, den Schülern zu helfen, mit dieser Herausforderung religiöser Pluralität gut umzugehen.“
In den Wochen des Tandemunterrichts gehe es nicht nur um reine Wissensvermittlung, sondern darum, dass Schüler die Möglichkeit bekommen, durch die wechselseitige Begegnung von ihren eigenen Biografien, ihrer eigenen Religiosität und ihren eigenen Praxiserfahrungen zu berichten. „Es geht uns letztlich um eine offene Haltung, die von Respekt und Interesse gegenüber Menschen anderer Religionen geprägt ist. Eine solche Haltung kann zum Verständnis von Perspektiven und Sichtweisen und zur Anerkennung anderer Konfessionen und Religionen führen. Dabei ist es uns wichtig, dass das auf der Grundlage der Gemeinsamkeiten der Religionen basiert, aber dass Unterschiede und Konflikte nicht ausgeblendet, sondern bewusst thematisiert werden. Die Differenz muss reflektiert werden, damit Schüler erleben, dass auch angesichts von Unterschieden und Konflikten eine kritisch-konstruktive Begegnung möglich ist.“
Große Offenheit
Bisher sei das Forschungsteam noch nicht mit problematischen Formen von Religiosität und Konflikten konfrontiert worden. Von christlicher wie von muslimischer Seite seien das Interesse und die Offenheit für das Gespräch sehr ausgeprägt gewesen. In den Auswertungsgesprächen, in denen die Schüler ohne Lehrkraft über ihre Erfahrungen sprechen konnten, hätten die Schüler das Projekt als spannend und toll bezeichnet, als eine interessante Erweiterung des Religionsunterrichts. Auch Pinz bekam von den Lehrkräften positive Rückmeldungen: „Grundsätzlich sind interreligiöse und interkonfessionelle Projekte immer sehr positiv bewertet und haben in Evaluierungen sehr gute Ergebnisse.“
Wenn aber Konflikte entstehen und Jugendliche mit fanatischen Einstellungen auffallen, hält Weirer es für entscheidend, zu schauen, was man aus dem Gesagten verstehen könne, und auch einen Perspektivenwechsel einzuüben. Aber man müsse auch klare Grenzen ziehen. „Da ist es ganz wichtig, dass die Lehrperson der eigenen Religion wertschätzend nachfragt, wie der Schüler zu diesen Ansichten kommt und gegebenenfalls auch sagt: Ich würde den Koran – oder die Bibel – anders lesen.“ Dass dieses Vorgehen kein Rezept sei, mit dem man alle problematischen Zugänge zu Religion auflösen könne, scheint Weirer klar. Erste Erkenntnisse der Radikalisierungsforschung würden allerdings belegen, dass fanatische Einstellungen oft durch Ausgrenzungs- und Minderwertigkeitserfahrungen entstehen. „Ich denke, es wäre kontraproduktiv, diese Erfahrungen nochmals zu verstärken.“
Wunderbare Ergänzung
Damit der interreligiöse Dialog gelingen kann, müsse eine Basisinformation über die eigene Religion vermittelt werden, so Pinz. „Wir haben beim interkonfessionellen Arbeiten gesehen, dass in der Konfrontation mit anderen Traditionen das Eigene noch bewusster wird und geschärft wird. Wenn in einem dialogischen Unterricht von evangelisch und katholisch zum Beispiel über Sakramente gearbeitet wird, ist das Wissen und die Kompetenz oft nachhaltiger, als wenn das ausschließlich im eigenen konfessionellen Bereich bearbeitet wird.“ Der konfessionelle Unterricht bleibe aber das entscheidende Modell. Der interreligiöse und -konfessionelle Unterricht sei „eine wunderbare Ergänzung“.
Bedenken, dass durch das Projekt neue Konflikte entstehen und Vorurteile sich bestätigen könnten, hat Weirer nicht: Um das zu verhindern, bespreche das Team im Vor-aus mit den Lehrern, wie ein solcher Unterricht funktionieren kann. Die Einstellungen der Lehrer selbst werden überprüft, und auch, wie die christliche und die muslimische Lehrkraft miteinander auskommen. „Ich nehme natürlich wahr, dass es auch Ängste gibt, und ich kann sie auch verstehen. Aber ich bin überzeugt davon, dass es immer mehr hilft, Vorurteile abzubauen, indem man miteinander ins Gespräch kommt, als nur über den anderen zu reden.“
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