Manchmal lässt etwas aufhorchen, was nicht gesagt wurde. Wir nehmen als Beispiel hierfür den im Dezember 2020 verabschiedeten Bundeshaushalt für das Jahr 2021. Danach soll der Etat für Bildung und Forschung von 18, 2 um 2, 6 auf 20,8 Milliarden steigen. Gut so, ist man geneigt zu sagen. Aber es fiel uns eine Redepassage der Bundesbildungsministerin Anja Karliczek in ihrer Rede vom 8. Dezember 2020 im Bundestag auf. Im Fokus von Bildung und Wissenschaft sieht sie: die Bewältigung der Corona-Pandemie, die digitale Bildung, die Klimaforschung, die Mitgestaltung von Schlüsseltechnologien, darunter die Künstliche Intelligenz und Quantentechnologie.
Nützlicheitserwägungen
Alles nützlich und wichtig! Aber man hätte sich gewünscht, die Bildungsministerin wäre in Zeiten gewaltiger Krisen auch auf die Bedeutung der Geisteswissenschaften eingegangen. Denn diese führen ein mehr und mehr marginales Dasein. Von den insgesamt 48 547 Professoren des Jahres 2019 stellten die Geisteswissenschaften nur 4 693. Zum Vergleich: 14 527 waren es in den Rechts-/ Wirtschafts-/ Sozialwissenschaften, 12 535 in den Ingenieurswissenschaften, 6 456 in Mathematik und Naturwissenschaften, 4 442 in der Medizin, 3 765 im Bereich Kunst etcetera. Die Geisteswissenschaften haben sich damit nicht von Sparmaßnahmen erholt, die im Zuge von „Bologna“ über sie hereinbrachen. Allein zwischen 1995 und 2005 mussten sie auf 663 Professuren bei gleichzeitig ansteigenden Studentenzahlen verzichten.
Wissenschaftlicher Paradigmenwechsel
Dahinter verbirgt sich nicht nur eine Schieflage, sondern ein Paradigmenwechsel. Die Fragen der Universitätspolitik lauten nämlich heute: Wie gestalten wir Forschung und Wissenschaft so, dass wir einen praktischen Nutzen davon haben? Wie kommen wir an Drittmittel? Wie schaffen wir es, in den Rang der Exzellenz-Universität zu kommen? Wie kann Hochschule zu einem betriebswirtschaftlich-kundenorientierten Dienstleister werden? Zumal seit der „Bologna-Reform“ stehen diese Fragen ganz oben auf der Agenda. Solche Konzentration auf Quantitäten und Verwertbarkeit trifft aber gerade die Geisteswissenschaften ins Mark.
Nährwert der Kultur
Die Natur- und Ingenieurwissenschaften haben in puncto Anerkennung und Förderung keine Probleme. Deren Ansehen und „praktischer Nährwert“ werden nicht ernsthaft in Frage gestellt, denn diese Wissenschaften versprechen Innovation und Steigerung der Lebensqualität. Ihre Absolventen werden „gebraucht“. Die „Produkte“ der Geisteswissenschaften sind jedoch zumeist nur mittelbar erfahrbar, über Bücher, Filme, Museen, Theater, das Feuilleton. Und dies auch nur für einen kleinen Kreis an bildungsbürgerlichen Interessenten.
„Der Brotgelehrte ist Symbol von Enge, der philosophische Kopf erforscht, was die Welt im Innersten zusammenhält.“
Friedrich Schiller
Wir wollen nicht eine Debatte ausbreiten, die die Universitäten im Grund seit zwei Jahrhunderten beschäftigt. Aber zwei Diagnosen sollten auch heute in der Debatte mitbedacht werden. Einmal die Unterscheidung zwischen dem „Brotgelehrten“ und dem „Philosophischen Kopf“, die Friedrich Schiller in seiner Jenaer Antrittsvorlesung vom 26. Mai 1789 mit dem Titel „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ vorgenommen hatte.
Schillers Kernaussage war: Der Brotgelehrte ist Symbol von Enge, der philosophische Kopf erforscht, was die Welt im Innersten zusammenhält. „Wo der Brotgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist.“ Zum zweiten wollen wir erinnern an die Diagnose des Grabens der „zwei Wissenschaftskulturen“, wie sie Charles Percy Snow 1959 in seinem Essay „The Two Cultures and the Scientific Revolution” zu Recht beklagt hatte.
Absehbare Orientierungslosigkeit
Gewiss garantieren die Natur- und Ingenieurswissenschaften Wertschöpfung, ohne die ein differenziertes Bildungswesen nicht finanzierbar ist. Aber es sind die Geisteswissenschaften, vor allem die Philosophie, die Theologie, die Geschichtswissenschaften, die Literatur- und Sprachwissenschaften, die Orientierungsverluste der nihilistischen Moderne mit ihrem „anything goes“ und „alternative“, in Kommunikationsblasen verbreitete Fakten ausgleichen beziehungsweise widerlegen helfen. Diese Ideologien bedeuten nämlich Beliebigkeit. Fehlende traditionelle Sinnbezüge mögen als „unmodern“ gelten, aber sie hinterlassen Orientierungslosigkeit.
Der Mensch ist eben nicht nur ein möglichst gut funktionierender „homo oeconomicus“, sondern ein historisches, sittliches, sprachlich-ästhetisches, sinnsuchend-religiöses Wesen und ein „zoon politikon“. Er bedarf des übernützlichen Sinns. Das heißt: Eine Reduktion von Bildung und Wissenschaft auf bloße Qualifikationen und Kompetenzen hinterlassen ein Vakuum. Nur der umfassende Gebildete aber ist frei und mündig, weil er sich gelegentlich zurücknehmen und reflektieren kann.
Reduktion auf „Lebenswirklichkeit“
Leider setzt der Verlust einer ganzheitlichen Bildungsidee schon in der vermeintlich „modernen“ Schule ein. Bildung wird hier mehr und mehr auf „Lebensweltlichkeit“ reduziert, konkrete historische Kenntnisse zählen nicht mehr, Gebrauchstexte stehen statt Literatur an, der Fremdsprachenunterricht ist fixiert auf „Kommunikation“. Kurz: „Entrümpelte“ Lehrpläne, endlose Kompetenzkataloge, „download-“, „instant-“ und „just-in-time-knowledge“ ersetzen einen orientierenden Wissenskanon. Damit fehlt es Schülern und später Studenten am entsprechenden Resonanzboden.
Geisteswissenschaften sind keine Dinosaurer, kein „l'art pour l'art“; sie sind sehr wohl „systemrelevant“, denn sie erbringen ihre besondere Leistung als historisch-erinnernde, als Werte- und Geltungswissenschaften. Sie tragen dazu bei, das eigene Menschsein zu verstehen, zu entfalten und zu gestalten.
Ideelle Stabilität
Das gilt zumal in Krisenzeiten wie „Corona“. Mit anderen Worten: „Die Fragen, die Platon oder Kant behandelt haben, sind heute ebenso relevant wie sie es am Anfang waren. Nur die Gewissheit altert …“ (George Steiner).
So entscheidend es für eine Gesellschaft ist, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen, nicht minder entscheidend ist, dass eine Gesellschaft ideeller Stabilität und kulturellen Selbstverständnisses bedarf. Die Geisteswissenschaften sind Basis dafür. Es wird Zeit, dass die Bildungspolitik sich wieder darauf besinnt.
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