"Nehmt euch in Acht vor alten Männern — sie haben nichts zu verlieren!" Die Warnung, die George Bernard Shaw zugeschrieben wird, hat wieder an Bedeutung gewonnen. Sie ist sogar noch eindringlicher geworden: denn vom alten Mann ist es zum alten, weißen Mann nicht fern. Er ist das Gegenbild zur gewünschten Transformation: er verkörpert Verknöcherung im Gegensatz zum dynamischen Aufbruch; Farblosigkeit im Kontrast zum Regenbogen; ein klimaschädliches Fossil ohne erneuerbare Energie; toxische Maskulinität ohne weibliche Empathie; die alte Elite an der Macht, die einer neuen, gerechteren Ideologie von der linken Seite des politischen Spektrums Platz machen soll. Das wörtliche englische Zitat "Nehmt euch in Acht vor alten Männern, denn ihnen ist die Zukunft egal" könnte auch auf einer "Fridays for Future"-Demo oder einem Parteitag der Grünen skandiert werden.
Dabei wäre es zu einfach, die Rolle des alten Mannes in das Klischee des nicht weichen wollenden Biedermanns rücken zu wollen. Die landläufige Gerontophobie sollte nicht den Blick darauf versperren, dass die Vergangenheit den Greis oftmals nicht nur als Querulanten, sondern auch als Anarchisten gezeichnet hat: gegen den Strich gebügelt und mit einer großen Lust am Experiment. Gerade weil der "alte, weiße Mann" seine Pflichten in Beruf und Familie abgeleistet hat, lastet nicht mehr die Konvention auf ihm. Dass Loriots Klassiker "Weihnachten bei Hoppenstedts" bis heute sich großer Beliebtheit erfreut, liegt nicht so sehr daran, dass der Großvater sich zum Gespött macht, sondern der Erwartungshaltung an einen Großvater nicht entspricht. Gegen Opa Hoppenstedt sieht selbst die Jugendkultikone Pippi Langstrumpf alt aus. Ein Miniaturatomkraftwerk an Weihnachten zu verschenken ist gemessen an heutigen moralischen Vorstellungen deutlich skandalöser als ein Piratenabenteuer mit Tommy und Annika. In diesem Sinne kürte Welterklärer Peter Scholl-Latour das Shaw-Zitat in seinen letzten Jahren zur Lebensdevise.
„(Sie) setzten mit Joseph Biden auf einen altgedienten Routinier,
der mit der Erlangung der Vizepräsidentschaft unter Barack Obama
seinen politischen Zenit eigentlich längst überschritten hatte“
Die mangelnde Originalität jener Generation, die lieber Pippi als Annika sein will, ist dagegen heute deutlicher denn je. Sie zeigt sich nicht nur in einem Hang zur uniformen Diversität, sondern auch in einer kognitiven Dissonanz, die in der Herzkammer des internationalen politischen Wokeismus bei der US-Präsidentenwahl deutlicher denn je wurde. So rebellisch sich die linksalternativen Strömungen gerieren, sie erhalten direkt oder indirekt den status quo. Die Demokraten nominierten nicht etwa eine junge Frau, einen Mann mit Migrationshintergrund oder eine andere Persönlichkeit, die das "neue Gesicht" Amerikas verkörpern sollten sondern setzten mit Joseph Biden auf einen altgedienten Routinier, der mit der Erlangung der Vizepräsidentschaft unter Barack Obama seinen politischen Zenit eigentlich längst überschritten hatte. Die aussichtsreichste Konkurrenz kam nicht etwa von Alexandria Ocasio-Cortez, die wie viele andere ideologische Wunschvorstellungen geschlechtliche, migrationstechnische und ideologische Prämissen deutlich besser erfüllte als Biden sondern das altsozialistische Fossil Bernie Sanders, der fast ein Jahr älter ist. Alte Herren an der Spitze der Bewegung?
Ob Biden, Bill Gates, Rupert Murdoch, Warren Buffet, Michael Blomberg, Antonio Guterres, Wladimir Putin, Mario Draghi oder Papst Franziskus: die Welt ist weiterhin eine der alten Männer. In vielen Bereichen haben sich die Konstellationen in den letzten zwanzig Jahren kaum verändert. Elon Musk oder Mark Zuckerberg bleiben Ausnahmen. Die alten Griechen setzten einst die akm , also die Blüte eines Menschen, auf 40 Jahre fest die tonangebenden Eliten liegen im Durchschnitt deutlich darüber. Fast vergessen ist dagegen die Welle junger, als charismatisch und energisch geltender Staatsmänner, die von den Medien angepriesen wurden: Barack Obama galt als spleeniger Staatschef, der kanadische Premierminister Justin Trudeau stellte sich als gutaussehender Feminist dar, und Emanuel Macron wollte Frankreich wieder ganz "in Marsch" bringen. Zufall, dass es sich auch bei diesen Extremen um Geschöpfe aus demselben Spektrum handelt, das nunmehr die Gerontokratie mit Senioren stürzen will?
Der Zauber der Jungen verfliegt in der Realität schnell
Ein Paradebeispiel bietet das Schicksal des italienischen Premierministers Giuseppe Conte. In der langen Reihe der Regierungschefs Italiens war Conte verhältnismäßig jung. Doch ähnlich wie bei Trudeau und Macron verflog der Zauber mit den Jahren. Nicht nur der Regierungswechsel im Sommer 2019, sondern auch das Corona-Management und interne Auseinandersetzungen bereiteten seiner politischen Karriere ein vorzeitiges Ende. Die Italiener beriefen stattdessen den ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, zum Nachfolger. In Zeiten der Not sollte die bewährte Hand eines erfahrenen Mannes mit internationalem Renommee Italien führen. Eine Reaktivierung, die an die Legende des römischen Staatsmannes Cincinnatus erinnert, der seinen Acker pflügte und sofort die Initiative ergriff, als ihn der Senat bei einer drohenden Invasion zum Diktator ernannte. In einer krisengeschüttelten Europäischen Union dürfte Draghi nicht die einzige cincinnatische Figur bleiben. Das Beispiels könnte insbesondere dort die Runde machen, wo die Loyalität zu Brüssel unsicher ist. Donald Tusk hat sich mittlerweile dazu bereit erklärt, im polnischen Wahljahr 2023 gegen das "Böse" anzukämpfen. Wenn es um die Ideale der Jungen geht, müssen es die Alten richten.
Die Jugendkultur weicht der Sehnsucht nach dem Bekannten, dem Vertrauten kurz, dem Eingekuscheltsein in der Zukunft von gestern. Dieselben Experten, die beklagen, das große Teile der westlichen Gesellschaft nicht mit einer "komplexer werdenden Welt" zurechtkommen, beglückwünschen zugleich die Rückkehr der Greise, um eine Politiker der 90er Jahre fortzusetzen. Mit dem demographischen Wandel ist ein solches Festhalten kaum zu erklären; denn vielmehr mit einer Mentalität, die sich eine Normalität zurückwünscht, die es nie gegeben hat, aber mit nostalgischen Erinnerungen verknüpft ist. Dass Biden die Außenpolitik seines Amtsvorgängers im Pazifik und vermutlich auch gegenüber Russland fortsetzt, stört weniger angesichts des "guten Gefühls", dass die Dinge wieder wie früher scheinen.
Gerontokratie als Signal für Mangel geeigneten Nachwuchses
Auf den ersten Blick ist die Rückkehr der alten Männer ein Zeichen dafür, dass Verlässlichkeit, Erfahrung und Nüchternheit wieder eine größere Rolle spielen. Sie ist aber zugleich ein Warnzeichen. Die Gerontokratie muss nicht bedeuten, dass sich die Alten die Macht unter den Nagel gerissen haben sondern kann auch signalisieren, dass es schlicht keinen passenden Nachwuchs gibt. Problematisch wird sie, wenn nicht nur mangelnde Kreativität oder Engstirnigkeit den Entscheidungsprozess behindern, sondern gesundheitliche Probleme diese schlichtweg verhindern.
Bis heute bleibt die Altherrenriege der Sowjetunion und der Ostblockstaaten in plastischer Erinnerung: hochdekorierte Staatsführer, die allesamt im 2. Weltkrieg als glühende Kommunisten gekämpft, nach Jahrzehnten aber kaum noch eine Vorstellung von den Verhältnissen im Land hatten. Die Vergreisung und Handlungsunfähigkeit von einzelnen Personen begünstigt die Entwicklung von Parallelgremien und informellen Absprachen; die Macht wird dort verteilt, wo sie effizienter eingesetzt werden und missbraucht werden kann. Die Stagnation wird zum Dauerzustand. Der Erhalt des status quo wird zuletzt über den Erhalt des Staates selbst gestellt. Autoritätspersonen gelten dann nur noch als Stützen eines sonst zu kollabieren drohenden Staatswesens.
Programmatisches Leere nach 16 Jahren Merkel
Die Altherrenherrschaft bleibt damit ein Phänomen des Übergangs. Einen Draghi, Tusk oder Biden kann man nur einmal an die Macht bringen. Danach folgt das Vakuum – für Partei wie für Politik, die sich darum scheute, über Jahre eine klare Antwort zu geben und langfristige Strategien zu gestalten. Das gilt nicht nur für die Regierung alter Männer, sondern auch für die von sechzehn Jahre lang regierende Kanzlerinnen.
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