Als die Epoche der Staaten ohne Gott begann

Der bolschewistische Umsturz ab 1917 lässt sich im Rahmen einer christlich inspirierten Schau neuzeitlicher Geschichte einordnen. Von Felix Dirsch
Statue "Eislebener Lenin" im Deutschen Historischen Museum
Foto: dpa | Lenin forderte die Abschaffung der Religion. Die Statue „Eislebener Lenin“ steht noch bis 15. April 2018 im Foyer des Deutschen Historischen Museums in Berlin anlässlich der Ausstellung „1917.

Der bolschewistische Putsch vor einhundert Jahren ist als Ergebnis eines spezifischen Amalgams von westlicher Ideengeschichte (Marxismus, Sozialismus) und östlichen Traditionen, insbesondere aber als Resultat der Historie der russischen Intelligenzija zu verstehen. Die Globalisierung des frühen 20. Jahrhunderts bringt eine eigentümliche Verschmelzung unterschiedlicher Welten hervor, um die sich russische Regenten seit Zar Peter dem Großen immer wieder bemüht haben. Die weltgeschichtliche Zäsur kann die Kontinuität nicht verbergen: Ein Land, dessen Bewohner nichts anders gewohnt sind als autokratische Despotien, ist hinreichend disponiert für moderne Diktaturen, unabhängig von deren neuartiger Legitimation. In der Praxis behandelt der „rote Zar“ seine Untertanen nicht weniger willkürlich als der aus der Dynastie der Romanows und ihrer Vorgänger. Vorher sind die Menschen gleich vor Gott gewesen, nunmehr sind sie es gemäß der kommunistischen Doktrin (wobei jede dieser Begründungen signifikante Ausnahmen kennt!).

Viele Studien heben den religiösen Aspekt der (so säkular wie nur möglich auftretenden) Revolutionäre hervor, am eindrucksvollsten von den Zeitgenossen vielleicht der Literat Alexander A. Blok in seinem Gedicht „Die Zwölf“. Die Anspielung auf die Symbolik ist eindeutig. Der letzte Vers lautet: „Die Bolschewiken bringen mich ins Grab“. 1921 ist der Verfasser an Unterernährung gestorben.

Das Geschichtsdenken im 20. wie im 21. Jahrhundert bemüht sich intensiv um die Einordnung der russischen Novemberrevolution. Der im letzten Jahr verstorbene Historiker Ernst Nolte betrachtet sie und ihre unabsehbaren Folgen als Höhepunkt in einer langen Traditionslinie der „ewigen Linken“, die die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch auf existenzielle Ungerechtigkeiten aufmerksam machen. Kürzlich hat der Publizist Gerd Koenen eine imposante „Geschichte des Kommunismus“ von den Revolutionen der alten Welt bis zum „Kommunismus 4.0“ Chinas vorgelegt, in der der Umbruch in Russland eine ausführliche Deutung erfährt.

Unter den christlichen Geschichts- und Kulturtheoretikern des letzten Jahrhunderts sucht man zumeist vergeblich nach einer Einordnung der Novemberrevolution. Zu den bedeutendsten Vertretern dieser Disziplin zählt der Brite Arnold J. Toynbee, der eine mehrbändige „Study of History“ verfasst hat, die man als „Theologia Historici“ deuten kann. Der „letzte Universalhistoriker“ setzt der einseitigen biologisch-deterministischen Geschichtsphilosophie des Agnostikers Oswald Spengler die Grundgedanken von „challenge“ und „response“ entgegen. Aufgebaut wird eine Kultur demnach mittels schöpferischer Minderheiten, die auf Herausforderungen von innen und außen reagieren.

Die autonome Vernunft will Gott abschaffen

Im Rahmen einer Historisierung dieser Umwälzungen aus christlicher Sicht muss man weit ausholen: bis an die Wende zur Neuzeit, die einschneidende Veränderungen mit sich bringt. Mit dem Ende der Vorstellung vom geozentrischen Weltbild rückt auch der Mensch an die Peripherie des damals bekannten Universums. Zweifellos kann man Humanismus und Renaissance auch als Stufe innerhalb der menschlichen Befreiungsgeschichte deuten. Dennoch findet bei genauerem Hinsehen in dieser Epoche eine Depotenzierung des Humanen statt, die Sigmund Freud als „Kränkung“ wertet. Der Mensch mutiert zu einem Stück Natur, das sich von Tieren und Pflanzen nicht unterscheidet. Im Laufe der Jahrhunderte wird diese Perspektive Stück für Stück einflussreicher.

Ihren Höhepunkt erreicht diese Entwicklung im 19. Jahrhundert. Bei Marx ist „der Denkprozess selbst aus den Verhältnissen“ herausgewachsen und somit „ein Naturprozess …“. Er bekräftigt, dass auch das menschliche Denken einen „Wachstumsprozess der Natur“ darstelle – nicht mehr und nicht weniger.

Der Einschnitt der beginnenden Neuzeit zeigt sich exemplarisch bei so verschiedenen Persönlichkeiten wie Descartes und Luther. Ersterer sieht die Vernunft als alleinigen Maßstab der Wahrheitsfindung. Gott existiert zwar, aber er ist nur noch zur Sicherung der Wahrheit nötig, also funktionalistisch verwendet. Gut ist, was verstandesgemäß ist, schlecht, was den rationalen Grundsätzen widerstreitet. Der christliche Sündenbegriff stört in einem solchen System nur. In letzter Konsequenz schafft die autonome Vernunft Gott ab. So weit geht Descartes noch nicht, wohl aber einige seiner hyperrationalistischen Nachfolger.

Wenngleich Luther etliche Gegensätze in seinem Denken vereint, zählen die von ihm angerichteten Zerstörungen zu seinem folgenreichsten Erbe: die Diskreditierung der Fides-caritate-formata-Lehre, die das Verhältnis von Glaube und Liebe behandelt und in mustergültiger Weise bei Thomas von Aquin behandelt wird; die Angriffe auf die Scholastik, die die traditionelle Balance von Glaube und Vernunft destruieren; die Attacken auf kirchliche und weltliche Autoritäten; die Überordnung des subjektiven Gewissens über den Glauben der Kirche und einiges mehr. Der Politologe Eric Voegelin schlägt in seinen Betrachtungen zur „Pathologie des modernen Geistes“ einen weiten Bogen: „Es gibt in der Tat eine erkennbare Sinnlinie, die von Luthers Zerstörung kirchlicher Autorität über die Zerstörung dogmatischer Symbole in der Generation von Strauss, Bruno Bauer und Feuerbach bis zu der Zerstörung ,aller Götter‘, das heißt aller autoritativer Ordnung, bei Marx verläuft.“ Voegelin sieht im „Marxismus das letzte Ergebnis der Auflösung in einem Zweig des deutschen liberalen Protestantismus“.

Die so facettenreichen Strömungen der Aufklärung hätten ihre durchschlagenden Erfolge vornehmlich unter den geistigen Eliten nicht ohne die negativen Wirkungen der „konfessionellen Fundamentalismen“ (Nolte) erzielt, die wiederum als Konsequenz der Glaubensspaltung begriffen werden können. Die Territorialstaaten verstehen sich ab Mitte des 17. Jahrhunderts als arbiträre Einrichtungen über den Religionsgemeinschaften. Die säkularisierenden Implikationen einer derartigen neuen Rolle, die im Laufe der Zeit zutage treten, liegen auf der Hand.

Die Einstellung der Protagonisten der Aufklärung zum Glauben ist unterschiedlich. Französische Vertreter agitieren nicht selten scharf antikirchlich. Die deistische Ausprägung zeigt sich im Ancien Regime offen, wie „der Fall“ Voltaire erkennen lässt. Rousseau propagiert vehement die Substitution kirchlicher Lehren durch eine verdünnte Zivilreligion. In den deutschen Ländern ist die Tendenz bestimmend, christliche Grundsätze als Hilfsmittel herauszustellen, die dann redundant werden, wenn die Massen von der Vernunft ergriffen werden. Kant sieht den Allmächtigen nur noch als vernünftigen Zweck. Vom lebendigen Gott des Glaubens hat sich der „Pseudoretter des Glaubens“ (Hansjürg Stückelberger) verabschiedet.

Angesichts der verbreiteten Aversionen gegen die überlieferte Religion vor 1789, die nicht nur in der Verquickung von Thron und Altar begründet liegen, verwundern die Entchristianisierungsmaßnahmen bald nach Ausbruch der Revolution nicht. Die Gewaltgeschichte der Französischen Revolution, die als „Liberté, Egalité, Brutalité“ (Horst Gebhard) beschrieben werden kann, füllt halbe Bibliotheken. Vom Zwangseid der Priester auf die Konstitution über die Einführung der Zivilehe und die temporäre Abschaffung der christlichen Zeitrechnung bis zum Terror gegen Bewohner der katholisch geprägten Vendée-Region reichen die antiklerikalen Kampagnen. Die Epoche der Staatsordnungen ohne Gott beginnt.

Im Anschluss an das weltgeschichtliche Ereignis der Französischen Revolution radikalisiert sich der philosophische Diskurs. Die Inkarnation des Logos wird von Hegel als Naturwerdung des Geistes ausgelegt. Die Junghegelianer profanieren die idealistischen Debatten. Beim genauen Studium des sehr umfangreichen Werkes von Marx erscheint es grotesk, diesen als Humanisten herauszustellen, mögen sich auch einige periphere Stellen hierzu beim frühen Marx finden. Insgesamt überwiegen bei Weitem jene Belege, die ihn als einen der „Väter des Terrors“ (Konrad Löw) und als „Anstifter zum Massenmord“ (Stückelberger) erscheinen lassen. Marx selbst betont, dass die Kritik der Politik die der Religion voraussetzt. Sein bekanntes Diktum von der Religion als „Opium des Volkes“ erfährt bei Lenin eine Zuspitzung. Letzterer fordert, dass eine Ausrottung des Glaubens aktiv betrieben werden müsse. Von Marx führt ein eindeutiger Weg zu Lenin und dessen Nachfolgern.

Lenins Haltung gegenüber jedweder Transzendenzvorstellung ist unversöhnlich. Selbst Kompromisspositionen, wie sie etwa die Gottesbildner verfechten, bekämpft er. In Gottfried Mais Lenin-Darstellung ist zu lesen: „Die ersten zwei Jahrzehnte der Sowjet-Macht haben allein im russischen Volk 30 bis 35 Millionen Tote an Menschenopfern gefordert. Die Bolschewiki rühmen sich selbst, in den Jahren nach der Revolution 28 Bischöfe, 1 215 Priester, 6 000 Mönche, 55 aktive Offiziere, 55 000 Polizeioffiziere und Beamte, 350 000 akademisch gebildete Personen des öffentlichen Lebens und 50 000 Handwerker und Bauern liquidiert zu haben.“ Die ungeheure Opferzahl der Zwangskollektivierten ist noch nicht mitgerechnet. Aus punktuell-unsystematischen Christenverfolgungen der Französischen Revolution werden nunmehr ideologiekonsequent-systematische.

1918 heißt es in einem Periodikum der neu entstandenen Geheimpolizei „Tscheka“: „Uns ist alles erlaubt.“ Die Beseitigung aller Ungerechtigkeiten lässt alle Mittel recht erscheinen. Das neuzeitliche Autonomiestreben, das sich von den vermeintlichen Fesseln des überlieferten christlich-biblischen Sittengesetzes zu befreien beabsichtigt, erreicht in dieser Rechtfertigung seinen Höhepunkt.

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