Geniale Paare

Allein die Liebe bleibt

Tränen bewirken manchmal Wunder: Die heiligen Geschwister Benedikt und Scholastika.
Heiliger Benedikt von Nursia und Heilige Scholastika beim Essen und Trinken
Foto: Imago | Gemeinsame Vision, gemeinsames Essen: Der heilige Benedikt von Nursia und die heilige Scholastika. Kunstvolles Wandgemälde aus dem 15. Jahrhundert, Benediktinerabtei, Kloster San Benedetto, Sacro Speco.Imago

Sechs Tage vor seinem Tod ließ Benedikt von Nursia (480-547) die Grabstätte seiner Schwester Scholastika öffnen. Sie lag in der Kirche Johannes des Täufers auf dem Gelände des Klosters Monte Cassino. Hier oben auf dem Berg hatten die Mönche und ihr Abt jenen Weitblick erworben, der ihren Geist hoch über die Wirren der Zeit hinaushob. Was tun, wenn die politische Ordnung zerbricht und das Schiff der Kirche auf dem Ozean der Welt schwankt? In dieser Stunde gilt es, das Hören wieder zu lernen.

„Benedikt lässt den Leichnam seiner Schwester in den Klausurbereich des Klosters bringen
und in jenem Grab beisetzen, das er sich selbst gewählt hatte.
‚So kam es, dass auch das Grab die Leiber derer nicht trennte,
deren Geist immer eins in Gott gewesen war.‘“

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„Höre, mein Sohn!“ („Obsulat, o fili“) Mit dieser Aufforderung eröffnet der Heilige seine Mönchsregel („Regula Benedicti“). Hören auf Gottes Wort fordert Gehorsam und Demut. Früchte dieser Tugenden sind für Benedikt Wahrhaftigkeit und Wehrhaftigkeit im geistlichen „Kriegsdienst“ gegen die Mächte des Bösen. Die Wüstenväter hatten im Einzelkampf („singularem pugnam heremi“) den Dämonen widerstanden. Benedikt sah in seiner Gebetsgemeinschaft eine „brüderliche Schlachtreihe“. Das Gebet ist ihr Kampf. So enthüllt sich in der Liturgie das Wesen der Kirche. Es liegt nicht allein in caritativen, sozialen oder pädagogischen Aufgaben, wusste noch Emmanuel von Severus (1908-1997), der legendäre Novizenmeister von Maria Laach. In der Kirche geht es auch nicht um ein Nachbeten vergänglicher Tagesmeinungen.

„Im Angesicht der Engel will ich dir Psalmen singen“ (RB 19, 5): Benedikts Mönche führten ein Engelleben auf Erden. Ihr Symbol war jene Himmelsleiter, von der Jakob einst geträumt hatte. Benedikt deutete sie als Stufenweg der Annäherung an Gott. Am Ende aller Übungen bleibt allein die Liebe. Sie ist vollkommen und ohne Furcht. Hatte der Mönchsvater des Abendlandes selbst dieses Ideal erreicht? Sechs Tage steht Benedikt betend vor dem geöffneten Grab. Unterstützt von den Brüdern und gestärkt durch die Eucharistie, streckt der Fieberkranke seine Hände zum Himmel. Hier weilt bereits seine geliebte Schwester Scholastika. Ihr Leib aber liegt vor ihm in jenem Doppelgrab, das auch seinen Leichnam aufnehmen wird.

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Der Bruder wird von der Schwester überwunden

Scholastika (um 479-542) gehörte zu jenen geweihten Jungfrauen, die in kleinen Gemeinschaften ein geistiges und geistliches Leben führten. Ob sie sich als kleines Mädchen selbstständig für diese Lebensform entschieden hatte, ist unbekannt. Gregor der Große (um 540-604), Biograf der heiligen Geschwister, hatte Dokumente von Zeitzeugen gesammelt. Der Schwerpunkt seiner Lebensbeschreibung in Dialogform liegt in den Wunderberichten. Sie setzen das Werk der Mönchsregel ins Bild der Legende und stellen Benedikt als überragenden Mann Gottes heraus. Doch am Ende wird der Wundertäter von seiner Schwester überwunden.

Einmal im Jahr trafen sich die Geschwister außerhalb des Klausurbereiches. Sie verbrachten den Tag im geistlichen Austausch. Bei ihrem letzten Treffen bat Scholastika ihren Bruder, über Nacht bei ihr zu weilen. „Ich bitte dich, verlasse mich diese Nacht nicht, damit wir bis zum Morgen von den Freuden des himmlischen Lebens sprechen können.“ Natürlich kann ein Mönch nicht außerhalb seines Kloster übernachten. Die Schwester hatte Unmögliches gefordert. Der Bruder erhob sich zum Aufbruch, die Schwester aber vertiefte sich in ein Gebet. Wie in einer naturmagischen Ballade flossen zuerst ihre stillen Tränen, dann blitze und donnerte es gewaltig. Der einsetzende Wolkenbruch verhinderte den Aufbruch. Benedikt hatte Kranke geheilt, Teufel vertrieben, verlorene Gegenstände aus der Tiefe des See gefischt und Wunder über Wunder bewirkt. Die Tränen seiner Schwester aber brachten den Himmel zum Weinen. Das Tränencharisma galt noch im hohen Mittelalter als Gnadengeschenk, denn in den Tränen weint die Liebe. Wer unter den Heiden mit dieser Gabe gesegnet war, wusste noch Wolfram von Eschenbach, galt als getauft. Scholastikas Tränen waren kein Ausdruck von Selbstmitleid und erst recht kein sanfter Erpressungsversuch. Sie galten dem Bruder, der trotz aller Nähe im Gespräch nicht gespürt hatte, worum es im Eigentlichen ging. Es sollte ihr letztes Gespräch sein.

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Benedikts Modell der "Stablitas" und Scholastikas Tränen 

„Seinem Wollen stellte sich ein Wunder entgegen, das der allmächtige Gott nach dem Herzensverlangen einer Frau bewirkte“, kommentiert Gregor. Er war ein Spezialist für Grenzerfahrungen. Als Papst lebte er in einer dramatischen Zeitenwende. Simonie, Pflichtvergessenheit, Aufgehen in administrativen Tätigkeiten, anhaltende Glaubensspaltung, Kriegswirren, Naturkatastrophen, Erdbeben, Pestepidemien – Gregor sprach von „Greisenalter der Welt“ und einer sterbenden Kirche: „Ein altes und heftig geschütteltes Schiff habe ich, der ich persönlich unwürdig und schwach bin, übernommen, denn von allen Seiten dringt das Wasser herein, und die morschen Planken, vom täglichen Unwetter erschüttert, verkünden schon ächzend den Untergang.“ Benedikt hatte ein Modell der Ordnung („stabilitas“) für apokalyptische Zeiten entworfen. Dennoch stellt sein Biograf die Tränen seiner Schwester über die Wunderwelt der Mönchsregel. Der Leser solle an dieser Entscheidung keinen Anstoss nehmen, denn Gott ist die Liebe, „so vermochte nach einem gerechten Entschluss Gottes jene mehr, die mehr liebte.“

Drei Tage später stirbt Scholastika. Benedikt lässt den Leichnam seiner Schwester in den Klausurbereich des Klosters bringen und in jenem Grab beisetzen, das er sich selbst gewählt hatte. „So kam es, dass auch das Grab die Leiber derer nicht trennte, deren Geist immer eins in Gott gewesen war.“ Dieses Beispiel der Sepulkralkultur sollte Schule machen. Bonifatius und Lioba ließen sich in einem Grab bestatten, ebenso die Konvertiten John Henry Newman und Ambrose St. John. Dieser Ausdruck einer den Tod überdauernden Freundschaft hatte nichts Anzügliches. Beide glaubten an eine Fortsetzung des gemeinsamen Weges wie die Inschrift auf dem Grabstein bezeugt: „Ex umbris et imaginibus in veritatem“. So ganz geheuer war den Nachgeborenen dieser Brauch jedoch nicht. Im Vorfeld des Heiligsprechungsverfahrens von Kardinal Newman wurde die Grabstätte geöffnet, um die Leiber der Freunde zu trennen. Zum Glück waren sie längst eins geworden.

Die Liebe stoppt und überdauert den Verfall

 

 

Die Liebe, das war Scholastikas Lehre, überdauert den Verfall. Deshalb können Untergang und Zerstörung, Krankheit und Tod ihr letztlich nichts anhaben. Die Geschwister kamen aus einem gebildeten Elternhaus. Der junge Benedikt hatte durchaus versucht, seinen Platz in der Welt zu finden. Er studierte Rechtswissenschaften in Rom, war aber angewidert vom universitären Betrieb. „So regierte im gesamten Hochschulwesen die Phrase“, weiß sein Biograph Ildefons Herwegen (1874-1946). Die Klostergründung auf dem Berg war eine Flucht zum Grund. Dieser ist die Gottesliebe, die vollkommen ist und alle Furcht vertreibt. Auch die Angst vor einem grundlegenden Wandel in der Kirche.

Benedikt sagte die erste Zerstörung seines Klosters voraus. Zu den nie geahndeten Kriegsverbrechen gehörte die Bombardierung von Monte Cassino durch alliierte Flieger im Frühjahr 1944. Pius XII. hatte vergeblich versucht, diesen beispiellosen Akt der Gewalt gegen die Kirche zu verhindern. In Benedikts Kloster fanden unter dem Hagel von 500 Tonnen Bomben viele hundert italienische Mütter und Kinder den Tod. Deutsche Soldaten unter der Leitung des späteren Kurienkardinals Paul Augustin Mayer (1911-2010) hatten zuvor die wertvolle Bibliothek und die Reliquien der heiligen Geschwister gerettet und hinter den Mauern der Engelsburg gesichert.

Geistliches Leben, immer bedroht vom Zeitgeist

Die Zeitgenossen hatten wie Emmanuel von Severus diese Zerstörung des Stammklosters aller Benediktiner vor Augen, als der große Mann 1948 an die Unzerstörbarkeit des geistigen Baus der Abtei erinnerte, sie „sollte alle Weltenstürme überdauern und kommenden Zeiten der sichere Hort christlichen Lebens und geistlicher Überlieferung werden.“ Benedikts Kloster ist längst wieder aufgebaut worden. Doch wie steht es um das geistliche Leben?

Der Zeitgeist macht keinen Halt vor Klostermauern. Ist die Nacht gekommen, da niemand helfen kann (Johannes 9, 4)? Benedikt hatte keine Furcht vor der Nacht gehabt. An der Seite seiner Schwester wachte er in Gebet und Gespräch. Das gilt auch für diese Stunde „bis Du kommst in Herrlichkeit“.

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