Im Blickpunkt

Zehn Jahre Arabellion: Ein eisiger Frühling für Christen

Der Arabische Frühling wird zehn Jahre alt. Der Begriff ist sehr optimistisch. Für Christen hat sich vieles verschlechtert. Das Ringen in der islamischen Welt geht weiter.
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Foto: Open Doors (Open Doors Deutschland e.V.) | Zehn Jahre nach der Arabellion ist klar: Für die alteingesessenen Christen des Nahen Ostens wurde daraus meist ein Winter. Ein Junge in seinem zerstörten Elternhaus in Karamles.

Als sich am 17. Dezember 2010 der tunesische Gemüsehändler Mohammed Bouazizi aus Protest gegen staatliche Willkür und Ungerechtigkeit selbst anzündete, setzte er einen Flächenbrand in Gang, der den gesamten Raum mehr oder weniger stark erfasste. Bevölkerungswachstum, staatliche Repression, Verteilungskämpfe, Klimawandel: gewaltige (Struktur-)Probleme brachen sich in der Region Bahn. Gelöst ist keines davon. Ein Jahrzehnt später hat einzig Tunesien als Ausgangsland der arabischen Transformation einen stabilen Weg hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gemacht.

Zehn Jahre später

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Exakt zehn Jahre nach Beginn der Umwälzungen, die man einst optimistisch „Arabischen Frühling“ nannte, ist auch klar: Für die alteingesessenen Christen des Nahen Ostens wurde daraus meist ein Winter. Dieser war indes nicht überall gleich eisig. In Ägypten, wo die übergroße Mehrheit der Christen der Region lebt, hat sich im Verhältnis zum Staat manches zum Besseren gewandt. Die Verfahren für Kirchenbauten wurden vereinfacht und liberalisiert, Staatschef Sisi besucht demonstrativ Weihnachtsgottesdienste der Kopten, das Haupt der islamischen Azhar-Universität sucht den Schulterschluss mit Papst Franziskus. Diskriminierung und Intoleranz vor allem auf dem Land sind damit nicht beseitigt.

Ein tiefer Graben

Zum politischen Islam ist der Graben noch tiefer geworden. In einem Land, das nur politische Nullsummenspiele kennt, ist das aber keine Überraschung. In Syrien traf es die christliche Gemeinde – noch 2010 immerhin etwa zehn Prozent der Bevölkerung umfassend – ungleich härter als die Geschwister am Nil. Was im Frühjahr 2011 als Protest begann, militarisierte sich im Laufe des Jahres und wurde zum Bürgerkrieg, um schließlich in einen Stellvertreterkrieg regionaler und internationaler Mächte zu eskalieren. Die Christen siedelten meist in strategisch wichtigen Gebieten und wurden deshalb in hohem Maße Opfer der Kampfhandlungen. Islamische Fanatiker nahmen – und nehmen – sie ins Visier und mordeten, entführten, raubten und zerstörten Kirchen. Es ist unklar, wieviele Christen genau das Land verlassen haben. Aber die alte Stärke ist dahin.

Unfähig zu Reformen

Der Libanon ächzt unter hausgemachter Reformunfähigkeit und der Vielzahl an syrischen Flüchtlingen. Gut ausgebildete Christen, einst die staatstragende Gruppe des Zedernstaats, suchen in dem von einer Finanz- und Wirtschaftskrise heimgesuchten Land das Weite – ein Aderlass, der für das Land, das immer noch der kulturelle Schrittmacher der Christen in der Region ist, schmerzlich ist. Der Irak schlitterte bereits 2003 ins Chaos, das aber von den Arabischen Umwälzungen verstärkt wurde. Von der Flucht vor dem IS 2014 haben sich die Christen bis heute nicht erholt.

Strukturelle Probleme

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Corona verschärft die strukturellen Probleme der ganzen Region und wird dafür sorgen, dass noch mehr Christen gehen oder eine Rückkehr verwerfen. Insgesamt kann man sagen: Die Christen der arabischen Welt haben im letzten Jahrzehnt im Zweifel für Sicherheit votiert, nicht für Freiheit. Verdenken kann man es ihnen nicht. Die historischen Erfahrungen ließen sie meist für den Status quo – Assad – oder dessen Wiederherstellung – Sisi – plädieren. Das Beispiel Ägypten, wo in den ersten freien Wahlen mit Mohammed Mursi ein Islamist – wenn auch denkbar knapp – an die Macht gewählt wurde, ließ sie Schlimmes befürchten.

Ringen um Reformen

Kopten-Papst Tawadros stellte sich ein Jahr später neben Feldmarschall Sisi, um die Absetzung Mursis zu legitimieren. In den Augen westlicher Beobachter eine unverzeihliche Sünde wider die Demokratie. Aus Sicht der ägyptischen Christen ein alternativloser Schritt. Das Ringen der islamischen Welt mit sich selbst, das meist junge, nach Reformen strebende Aktivisten, alte Regime und Islamisten aller Couleur austragen, ist nicht zu Ende. Vielen Christen fehlt aber der lange Atem zu warten, wer gewinnt und wer unterliegt. Wirklichen Einfluss haben sie in dem Kampf, in dem auch ihre Zukunft entschieden wird, ohnehin nicht.

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