Es gibt einen chinesischen Glückwunsch: Ich wünsche Dir uninteressante Zeiten! Wir leben offenbar in interessanten Zeiten: Unsere Welt nennt sich „post“ und „trans“ – Mann und Frau, wie dem Mutterleib entsprungen, waren einmal. „Fließende Identität“ ist das Motto der androgyn-multiplen Körperlichkeit der Techno-, Pop- und Cyber-Kultur – alltäglich längst angekommen. Utopien des totalen Selbstentwurfs setzen sich zunehmend durch. Man ist nicht nur seines Glückes Schmied, sondern auch seines Körpers Schneider. Sogar die Frauenbefreiung hat ihr Subjekt verloren; Frauen „gibt“ es nicht einfach. Nicht mehr das biologische, sondern einzig das soziale, zugeschriebene, selbstgewählte Geschlecht ist im allgegenwärtigen Gender-Sprech wichtig. Das irritierende Spiel mit dem eigenen Fleisch verwischt alle Grenzen – Dekonstruktion ist das neue Fanal. Zwei Geschlechter? Nein: Vierundsechzig (oder mehr).
Den eigenen Körper überholen
Das hat gewaltige ethische Folgen. Gender nauting, das Navigieren zwischen den Geschlechtern, will alle sexuellen Möglichkeiten konkret ausschöpfen, besonders die Gleichgeschlechtlichkeit. „Zwangsheterosexualität“ sei nichts als ein durchschaubares Machtspiel. Einehe sieht vor Polyamorie lahm aus. Immer neue „Inszenierungen“ des Geschlechts heben den angeblich starren Körperbegriff auf – teils fiktiv in spielerischer Virtualität (transgender), teils real mit Hilfe operativer und hormoneller Veränderung (transsexuell). Mann kann Frau werden, den eigenen Samen einlagern und eine gute Freundin bitten, Leihmutter zu werden – eine längst verwirklichte High-Tech-Kooperation. Oder auch umgekehrt. Das um 1900 aufgetauchte Schlagwort vom „Dritten Geschlecht“ ist in Deutschland seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2017 rechtskräftig. Die Lebenswelt ist auf dem Weg zur grundsätzlichen Überholung des eigenen Körpers.
Aber: Ist Geschlecht nur zufälliges „Beiwerk der Evolution“ oder hat es konstitutiven Sinn? Auf dem Weg von den höheren Säugern zum Menschen gibt es mehrere Transformationen, die das Geschlecht an die Personwerdung binden. Aus tierischem Trieb wird menschliches Begehren, mehr noch: Begehren, begehrt zu werden; aus der Vermehrung wird Zeugung mit bleibender Verantwortung für das Gezeugte; aus dem Geschlechtsakt wird Ehe; aus der Ehe die generationenübergreifende Familie. So umgeformt wandeln sich naturale Anlagen in personale, bewusste Sinnhaftigkeit. Allerdings: Menschliche Sexualität ist nicht von sich aus „gesichert“, kann zurückgleiten in den tierischen Trieb. Natur muss erst erzogen, also kultiviert werden, sie ist keine gusseiserne Vorgabe. Und so wird sie in verschiedenen Kulturen verschieden überformt – das ist das Körnchen (freilich nur ein Körnchen) Wahrheit, das in „Gender“ steckt. Wir „haben“ nicht einfach einen Körper, wir müssen ihn gestalten: durch Kleidung, Benehmen, Selbstbeherrschung, Scham…
Vom lebendigen Leib zum sachlichen Körper
Gender hätte niemals Erfolg gehabt, wären nicht zwei außerordentliche Dynamiken zur Stelle: die High-Tech-Medizin und das Autonomie-Streben des selbstbewussten Individuums. Die erste Dynamik ist der späte Ausläufer des neuzeitlichen Mensch-Maschinen-Modells, das heute bis zum Transhumanismus weitergeträumt wird. Dabei wird der lebendige Leib zum sachlichen Körper degradiert: Er lässt sich im Labor herstellen, steigern, optimieren, manipulieren, neuerdings sogar selbstbestimmt töten. In der lichten Zukunft steht der „Cyborg“ = Cyber Organism, der durch Transplantate und Nanocomputer funktionsfähig erneuerbare Körper.
Die zweite Dynamik ist ein später Ausläufer der Aufklärung: des hochgesteigerten Freiheitswillens der „Western Civ“. Damit kommt eine maßlose Anstrengung ins Spiel: Aus „gegeben“ soll „(selbst)gemacht“ werden. Auch Geschlecht ist nicht mehr „datum“, sondern „factum“ – eine Art Software mit Mehrfachbeschriftung. Auch ohne medizinischen Eingriff genügt der imaginierte Selbstentwurf, zu irgendeinem Geschlecht zu gehören.
Sind Bio-Mann und Bio-Frau demgegenüber hoffnungslos „vormodern“? Rein medizinisch gesehen ermöglichen Pubertätsblocker, Hormongaben, Operationen nur eine unvollständige Teil-Umwandlung; Fortpflanzung ist ohnehin vorbei. (Übrigens wird immer öfter ein (unmögliches) Zurück zum „Original“ gewünscht.) Und psychologisch gefragt: Ist Selbstablehnung nicht psychisch therapiebedürftig? Aber nicht die Naturwissenschaft, nicht die Psychologie beantworten den Sinn, die Zielrichtung von Mann und Frau. Vielmehr ein alter Text, die Genesis.
Zu ihrem eigenen Glück verlockend verschieden ...
Platon entwarf einen Kugelmenschen, der sich selbst genügt – wäre das nicht eigentlich das Urbild des Menschen gewesen? Als die Kugel zur Strafe von Zeus getrennt wird, zerfällt sie in die Geschlechter. Doch genau das wird in der Genesis als Glück gezeichnet: Eben die Zwei sind das Doppelbild des Unsichtbaren. Zwei Menschen erhalten das Antlitz des Einen aufgeprägt, zwei sollen fruchtbar sein, zwei sollen herrschen.
Was die Genesis erzählt, ist sinnkonstitutiv. Die – gendertheoretisch völlig ausgesparte – Frage nach dem schöpferisch-göttlichen Sinn von Mann und Frau beantwortet sich so: Sie sind zu ihrem eigenen Glück verschieden - leibhaft, seelisch, geistig. Diese Vision zeigt gerade im fremden Geschlecht eine göttliche Spannung, die Lebendigkeit des Andersseins und die Notwendigkeit wunderbarer Asymmetrie. Schöpferisches Anderssein im gemeinsam göttlichen Ursprung – daran verblassen alle Einebnungen, Dekonstruktionen, Neutralisierungen.
So kommt in der Liebe das andere Geschlecht entscheidend ins Spiel. Das Hinausgehen aus sich ist unvergleichlich fordernder, wenn es nicht nur auf ein anderes Ich, sondern auf einen anderen Leib trifft – auf unergründliche Andersheit, unergründliche Entzogenheit, manifest bis ins Leibliche, Psychische, Geistige hinein. Diesen Unterschied auszuhalten, vielmehr sich in ihn hineinzubegeben und hineinzuverlieren, erfordert mehr Mut, als sich dem gleichen Geschlecht auszusetzen. Vielleicht ist wirklich nur die Liebe im Sinne von Tollkühnheit fähig, sich überhaupt einzulassen auf diese wirkliche Andersheit und sich nicht nur selbst zu begegnen. Wieviel Angst steckt in der Verweigerung des anderen Geschlechts?
Das andere Geschlecht ist nicht zu vereinnahmen, nicht auf sich selbst zurückzuspiegeln: Frau ist ein bleibendes Geheimnis für den Mann und umgekehrt. Der Mann wird nur an der Frau zum Mann und Vater, die Frau nur am Mann zur Frau und Mutter. Wer diesem zutiefst Anderen ausweicht, weicht dem eigenen Leben aus, auch der eigenen Kraft zum elterlichen Dasein, zum älteren Du.
Leitplanken der Liebe
Der tiefste anthropologische wie theologische Gedanke der Genesis ist wohl, dass die Liebesgemeinschaft von Mann und Frau eine Ahnung von der Liebesgemeinschaft in Gott selbst verleiht. Schon von der zweifachen Gestalt des Menschen her wäre klar, dass Gott nicht selbstgenügsam, schweigsam, verschlossen ist, vielmehr Hingabe, Gespräch, Beziehung – eben Liebe. Menschliche geschlechtliche Gemeinschaft als Abglanz der göttlichen Gemeinschaft – damit ist der griechischen Trauer über die Zweiheit des Menschen eine unglaubliche Antwort gegeben: statt Trauer die Seligkeit, Gottes innere Dynamik abzubilden.
Daher auch die drei Leitplanken der Liebe: Du allein – Du für immer – mit Dir fruchtbar. Diese Versprechen sind nicht zwanghaft, wenn sie bei der Eheschließung von der Kirche gefordert werden, sie sind ein inneres Ethos, nämlich der „Weidezaun“, in dem Leben, Leib, Liebe gedeihen. Auch um den stets drohenden Abfall zu verhindern.
Diese Wahrheit ist lebensbestimmend: Wie tief in Ihm der Ursprung alles Lebendigen, alles Menschlichen, des Eros zwischen den Geschlechtern, ja der unbeschreiblichen Freude der Mutterschaft und Vaterschaft zu suchen ist. Deswegen ja auch die Fassung der Ehe als Sakrament: Gott als Weg von mir zu dir. Geschlechtlichkeit als Fenster und Durchsicht auf seine Gegenwart. Man kann der gegenwärtigen Kultur nur wünschen, von ferne den Saum einer solchen göttlich-erotischen Erfahrung zu berühren.
Die Autorin ist Sprach- und Politikwissenschaftlerin. Sie war Professorin für Philosophie. Inzwischen leitet sie das Institut EUPHRat.
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