Vatikanstadt

„Väter dürfen das tun“

Sexueller Missbrauch: Warum Pater Josef Kentenich die von ihm gegründete Gemeinschaft Schönstatt verlassen musste.
Die wahren Gründe für die Exilierung von Pater Joseph Kentenich
Foto: IN | Die wahren Gründe für die Exilierung Kentenichs wurden in den letzten siebzig Jahren weder von ihm noch von den Marienschwestern bekannt gegeben, so dass die nun freigegebenen Akten die Sachlage klären können.

Mit der Öffnung der Archive des Vatikans für die Zeit des Pontifikats Pius XII. (1939–1958) können nun verschiedene gut gehütete Geheimnisse gelüftet werden. Eines davon betrifft die Schönstattfamilie, insbesondere die Marienschwestern, deren Gründer, Pater Josef Kentenich (1885–1968) im Jahr 1951 aufgrund eines Dekrets des Heiligen Offiziums von seinem Werk getrennt wurde und dann in die Vereinigten Staaten ging. Die wahren Gründe für die Exilierung Kentenichs wurden in den letzten siebzig Jahren weder von ihm noch von den Marienschwestern bekannt gegeben, so dass die nun freigegebenen Akten die Sachlage klären können.

Die erste Visitation in Schönstatt erfolgte durch Weihbischof Bernhard Stein im Februar 1949. Aus seinem Bericht kann man ein grundlegendes Wohlwollen dem Werk Kentenichs und vor allem den Marienschwestern gegenüber erkennen. Er schreibt unter anderem, er habe „durchweg[s] wertvolle und zum Teil auch geistig hochstehende Menschen“ unter den Schwestern gefunden, doch eben auch „nur wenige ausgesprochene Persönlichkeiten mit wirklich selbstständigem Denken und wahrer innerer Freiheit“. Bei den Schwestern erkenne er „charakteristische innere Unzufriedenheit, Unselbstständigkeit und Unsicherheit“. Es gehe ihm hauptsächlich darum, die Schwestern aus der kirchenrechtlich nicht erlaubten Situation zu befreien – ein Mann könne keine Frauengemeinschaft leiten –, ohne jedoch die Spiritualität Schönstatts zerstören zu wollen.

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Zwang, beim Gründer zu beichten

Viel Material ist sodann von der Visitation erhalten, die ein Professor der Gregoriana, der holländische Jesuit Sebastian Tromp von 1951 bis 1953 durchführte, der beim Konzil Sekretär der Theologischen Kommission werden sollte. Während der Visitation sprach er immer wieder mit den Schwestern und hinterließ zudem lange Aufzeichnungen seiner wiederholten Unterredungen mit Pater Kentenich selbst. Das Aktenmaterial zeigt auch in diesem Fall eine durchaus positive Grundhaltung des Visitators, der im Grunde keine schweren theologischen Bedenken gegen das Werk hat.

Tromp stellt jedoch die von ihm vorgefundenen Missstände sehr klar dar. Dabei ist der gravierende Verstoß gegen das Kirchenrecht bei der Spendung des Bußsakramentes – die Schwestern werden zum Teil gezwungen, beim Gründer zu beichten – nur eine Seite eines gut dokumentierten Machtmissbrauchs, der oft mit psychischem Druck gepaart ist. Wolle Schönstatts Spiritualität familienähnliche Zustände abbilden, so dürfte der Vater, das heißt Kentenich, nicht so übermächtig und beherrschend agieren. Denn aus den Beschreibungen dieser familienähnlichen Struktur geht eine schwache, dem Vater völlig willenlos ausgelieferte Mutter hervor, und hilflose erwachsene Frauen, die zu Kindern erniedrigt werden, ja die sogar den Vater fragen müssen, wann sie die Toilette aufsuchen, die Unterwäsche und Damenbinden wechseln dürfen.

Väter dürfen das

Dieser Vater sei charismatisch und liebevoll, aber ihm „gehört“ im wahrsten Sinne des Wortes die Familie, und diesen „Besitz“ verwalte er nach Belieben. Dazu gehört, wie aus den Akten hervorgeht, auch sexueller Missbrauch. Eine der Schwestern, die versucht, sich dagegen zu wehren, schreibt an die Generaloberin: „Er beruhigte mich und sagte: Väter dürfen das tun.“

Indirekt gibt sie einen Zeugen für das Geschehen an: Ihr Beichtvater verweigert ihr die Lossprechung. Nicht, wie man von der Kirche der vierziger Jahre vielleicht vermuten könnte, weil sie eine „Unkeuschheit“ begangen hätte und sich als unbußfertig erwies, sondern weil der Beichtvater so die Erlaubnis erhalten will, das Verhalten Pater Kentenichs nach Rom melden zu können, andernfalls solle die Schwester es selbst tun. So kommt es zu deren Brief an die Generaloberin, der – dies ist bezeichnend für das Klima und das Beschriebene – sofort an Pater Kentenich weitergeleitet wird. Die Generaloberin ist sich sicher, dass die Schwester vom Teufel besessen ist wie auch die anderen sechs bis acht, die ebenfalls geschrieben haben, deren Briefe sie aber vernichtet hat. Denn der „Herr Pater“, den man „Vater“ zu nennen hat, gilt schon zu Lebzeiten als Heiliger, und seinen Kult betreibt er selbst eifrig mit, wie durch Lieder, „Gebete“ und später auch Darstellungen bewiesen wurde.

Es gab also bei den Marienschwestern ein „Familiengeheimnis“. Wehe, jemand plaudert es aus! Die Schwestern, die mit dem Visitator sprechen, werden noch Jahre später geächtet, so dass Bischof Matthias Wehr von Trier 1953 dezidiert eingreift und die ganze Not dieser Frauen aufdeckt. Doch mehr noch offenbaren die vielen Briefe, die vor allem die Schwestern an den Papst richten: Jeder, der sich gegen den „Vater“ stellt und es wagt, ihn zu kritisieren, wird auf übelste Weise verleumdet. In den Archiven sind Briefe bis in die Konzilszeit erhalten und stellen im Grunde genommen einen Beleg für eine krankhafte Beziehung zum Gründer dar. Nicht zuletzt ist es ja Kentenich selbst, der in stets extrem wortreichen und manipulativen Briefen auf alles antworten muss, was verfügt wird, und sich doch an die Weisungen der Kirche, die ihm den Kontakt mit den Schwestern untersagt hatte, nicht hält. Der zunächst abgestrittene sexuelle Missbrauch wurde später damit erklärt, Kentenich hätte doch nur die sexuellen Spannungen der Schwestern durch die „tiefenpsychologische Methode“ lösen wollen.
Tromp hatte den Oberinnen der Kommunität klar die Gründe für die getroffenen Maßnahmen in seinen Schreiben erläutert und auch, dass man versuchte, den Stifter und die Gründergeneration nicht zu zerstören. Es ging ihm und den vielen mit Schönstatt befassten Menschen darum, die Verantwortung der Kirche vor allem für die Marienschwestern so wahrzunehmen, dass diese ihre Meinungs- und Gewissensfreiheit zurückbekommen. Es ging, und das ist in der Mitte des letzten Jahrhunderts tatsächlich erstaunlich, um die „Befreiung“ von Frauen, die gefangen waren in einer Beziehung, die der einer missbrauchten Ehefrau ähnelt, die noch die Hand desjenigen zurückschlägt, der ihr helfen will und die Beziehung zum Peiniger nicht beenden kann.

Ausreichend Gründe für die Entfernung

Die Marienschwestern hatten eine Chance erhalten, die sie aber in der untersuchten Zeit nicht wahrzunehmen wussten, vielleicht nicht wahrnehmen konnten. Erschütternd ist es, dass – soweit in den Akten zu lesen – nur der Visitator des Heiligen Offiziums der missbrauchten Schwester zuhört, ihr glaubt und Mut macht und den Zweifel nimmt, ob es recht war, gesprochen zu haben. Tromp hält in seinen Aufzeichnungen fest, dass sie in letzter Zeit keine sexuellen Übergriffe mehr erleiden musste. Für das Heilige Offizium blieben andere Gründe ausreichend, um die Entfernung Pater Kentenichs von seinem Werk zu rechtfertigen. Die römische Kongregation stellte die Schwestern nicht bloß und „benutzte“ den Bericht der Schwester nicht in den Begründungen. Die Kirche unter Pius XII. schützte die missbrauchte Frau und die Marienschwestern, die aber damals, statt den offiziellen Weisungen der Kirche zu gehorchen, lieber einer durch die Akten deutlich beschriebenen fragwürdigen Gestalt folgen wollten.

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Alexandra von Teuffenbach Josef Kentenich Kirchenrecht Pater Josef Kentenich Pius XII. Sexueller Missbrauch Synoden

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