Rechtfertigung allein aus Glauben und nicht durch Werke“ – das ist für Martin Luther „ein Artikel, mit dem die Kirche steht oder fällt“. Katholiken verbinden dagegen mit der Rechtfertigung den kirchlich vermittelten Eintritt in einen „Gnadenstand“, also neben dem Glauben auch Verdienste wie Gebet, sakramentale Christus-Begegnung und Werke der Liebe, die zu Rechtfertigung und Vergebung führen. Luther hatte durch seinen übertriebenen Subjektivismus Kirche und Sakramente in eine zweite Reihe gestellt. Aktuell stehen Protestanten und Katholiken gleichermaßen in Gefahr, sich durch eine weit verbreitete sozial-ökologische Gesinnungsethik selbst „werklich“ zu rechtfertigen. Theologisches spielt dann nur eine Nebenrolle, die politische Korrektheit zählt.
Vor zwanzig Jahren, am 31. Oktober 1999, zugleich der Reformationstag, wurde in Augsburg in einem feierlichen ökumenischen Gottesdienst von hohen Vertretern des Vatikans und des Lutherischen Weltbundes die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre unterzeichnet. Es war ein großes Anliegen Papst Johannes Pauls II., im Blick auf das Heilige Jahr 2000 in dieser Frage einen ökumenischen Meilenstein zu setzen. Dies wurde auch von der Öffentlichkeit, vielen katholischen Kirchenvertretern und Lutheranern überwiegend aus nichtdeutschen Landeskirchen so gesehen.
Kritik von katholischer und evangelischer Seite
Hingegen protestierten damals und später über 200 evangelische Theologieprofessoren vehement gegen den Text, weil sie darin lutherisch-protestantische Grundüberzeugungen verwässert, ja die evangelische Kirche katholisch „über den Tisch gezogen“ sahen. Gerade führende evangelische Theologen und Kenner der Rechtfertigungslehre wie Jörg Baur, Eberhard Jüngel und Christoph Markschies gehörten zu den profilierten Kritikern der Erklärung. Aus katholischer Sicht hat vor allem der Münchener Dogmatiker und spätere Kardinal Leo Scheffczyk (1920–2005) fundamentale und noch zu wenig rezipierte Anfragen formuliert. Er bemängelt in mehreren Aufsätzen (abgedruckt in: „Ökumene. Der steile Weg der Wahrheit“, Siegburg 2004) und in einem Interview mit dieser Zeitung („Die Tagespost“ vom 10. Juli 1999) die Distanz der Erklärung zum Rechtfertigungsdekret des Tridentinums als Norm katholischen Glaubens und spricht von einem „irrigen Ansatz“ in der Übernahme der protestantischen Ausschaltung menschlicher Mitwirkung.
Die „Gemeinsame Erklärung“ zur Rechtfertigungslehre steht in der Nachwirkung des Zweiten Vatikanums mit seinem Ökumenismusdekret und der sich daran anschließenden vielen Konvergenz- und Konsenserklärungen theologischer Fachkommissionen, die schließlich mit dem Dialog-Band „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ (Freiburg 1986) zu der These fanden, dass die Verwerfungen des Tridentinums und der reformatorischen Bekenntnisschriften den heutigen Partner nicht mehr treffen und daher aufzuheben seien. Ähnlich lautete schon 1957 in Bezug auf Karl Barth die Doktoratsthese von Hans Küng. Die noch vom Tübinger Theologen Johann Adam Möhler 1832 in seiner „Symbolik“ ausführlich und redlich beschriebenen „dogmatischen Gegensätze zwischen Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften“ wollen nicht mehr gesehen werden oder gelten im Zeitalter der Ökumene als überholt.
Teilkonsens mit viele Fragezeichen
Der von katholischen und evangelischen Theologen nach vielen Vorfassungen erarbeitete Text der „Gemeinsamen Erklärung“ wurde 1997 gleichzeitig in Hongkong und Rom veröffentlicht. Er wurde in Fachkreisen, aber auch in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, ausgiebig und kontrovers diskutiert. Der Päpstliche Rat für die Einheit der Christen veröffentlichte in Abstimmung mit der Kongregation für die Glaubenslehre, die damals von Kardinal Joseph Ratzinger geleitet wurde, eine „Antwort der katholischen Kirche auf die Gemeinsame Erklärung“, in der trotz des Konsenses in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre (nicht in „den“ Grundwahrheiten) weitere Differenzen angesprochen werden. So sei etwa die lutherische Formel „zugleich Gerechter und Sünder“ (simul iustus et peccator) für Katholiken nicht annehmbar, da die Gnade auch das Sein des Menschen wandele. Die menschliche Mitwirkung am Rechtfertigungsgeschehen werde zu wenig betont.
Das Projekt schien damit fast gescheitert, aber ein päpstliches Eingreifen, an dem auch der spätere Ökumene-Kardinal Walter Kasper beteiligt war, hat im Juni 1999 zu einer „Gemeinsamen offiziellen Feststellung“ mit einem „Annex“ als Ergänzung der Erklärung geführt, in der sich beide Partner verpflichten, das Studium der biblischen Grundlagen und das Verständnis der Rechtfertigungslehre zu vertiefen. Die Legitimität unterschiedlicher Sichtweisen wurde zugestanden – nun war der Weg zur offiziellen Augsburger Unterschrift frei. Das Ergebnis ist nicht der große Wurf, sondern ein „Teilkonsens mit vielen Fragezeichen“ (François Reckinger), der auch dem medialen und zeitlichen Druck des Jubiläumsjahres 2000 geschuldet war. Kirchendiplomatie siegte über theologische Gewissenhaftigkeit. Mag es auch nach der Erklärung von 1999 in der Rechtfertigungslehre keine unüberbrückbaren Gegensätze mehr geben, was etliche evangelische und katholische Theologen klar bestreiten, so bleiben doch weiter ökumenisch ungelöste Fragen vor allem im Amts- und Eucharistieverständnis.
Übersteigerte und unrealistische Erwartungen wurden gedämpft
Die übersteigerten und unrealistischen Erwartungen, die sich bei manchen mit der „Gemeinsamen Erklärung“ verbanden, wurden ein Jahr später gedämpft durch die Erklärung „Dominus Jesus“ der römischen Glaubenskongregation über „die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche“. Während einige Sätze dem protestantischen „solus Christus“ nahekamen, war das exklusive Kirchenverständnis vielen Protestanten ein Ärgernis. In dem zum 500-jährigen Reformationsjubiläum 2017 verfassten EKD-Grundlagentext „Rechtfertigung und Freiheit“ (Gütersloh 2014) wird die „Gemeinsame Erklärung“ nicht einmal erwähnt. Mitverfasser Christoph Markschies von der Berliner Humboldt-Universität bezeichnete ihre Erinnerung als eine „Belastung“ und einen „nicht sonderlich erfolgreichen Versuch der Ökumene der Konsenspapiere“, aus dem „nichts“ gefolgt sei. Dies nannte Kardinal Walter Kasper ziemlich erzürnt eine „konfessionalistische Eigenbrötelei“ und fragte, ob die EKD „noch als ernsthafter ökumenischer Partner gelten will“.
Konsenspapiere als Hindernisse für echte Ökumene
Trotzdem beurteilt Markschies die verwirrenden Folgen der Erklärung richtig, wenn sämtliche Unterscheidungslehren dekonstruiert werden oder wenn es später um die geforderte gemeinsame Kommunion geht, über die die deutschen Bischöfe 2018 untereinander und mit Rom öffentlich gestritten haben. Der Luganeser Dogmatiker Manfred Hauke sieht mit dem Amerikaner Christopher J. Malloy im Augsburger Ereignis von 1999 sogar den „Super-GAU“ eines Ökumenismus, der sich dem relativistischen Modell der „versöhnten Verschiedenheit“ verschrieben habe. Das zwanzigjährige Jubiläum der Unterzeichnung wird nun auf Einladung des Württemberger Landesbischofs Frank July mit katholischen Bischöfen und hohen Vertretern mehrerer Kirchengemeinschaften am Reformationstag in der Stuttgarter Stiftskirche gefeiert. In der Augsburger „Gemeinsamen Erklärung“ von 1999 lässt sich jedoch trotz viel Zustimmung auch von Methodisten, Reformierten und Anglikanern nicht der intendierte große Meilenstein der Ökumene erkennen. Sie ist und bleibt ein theologisch umstrittenes Resultat der vielen Konsenspapiere, die wirkliche Entscheidungen und eine „Ökumene der Profile“ (Wolfgang Huber) eher bremsen als in Gang setzen. Der „steile Weg der Wahrheit“ (Leo Scheffczyk), der der Ökumene aufgetragen ist, wird von ihr nicht eingehalten.