Srebrenica

Srebrenica wirkt noch heute nach

Vor 25 Jahren begingen Serben an bosnischen Muslimen das größte Massaker in Europa seit 1945.
Massaker von Srebrenica
Foto: Valdrin Xhemaj (EPA) | Knapp 20 Jahre nach dem Genozid: 2013 werden über 400 erst jetzt identifizierte Opfer bestattet.

Von den Touristenmagneten Dubrovnik und Split an der Adria weniger weit entfernt als München von Berlin liegt in Ostbosnien die Kleinstadt Srebrenica. Dort fand im Sommer 1995 ein Massenmord  statt, der vom UN-Kriegsverbrechertribunal ebenso wie vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) als Genozid, also als Völkermord klassifiziert wurde. Es war das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des II. Weltkriegs. Ein russisches Veto verhinderte im Jahr 2015 eine UN-Resolution, die das Srebrenica-Massaker im Sicherheitsrat explizit als Völkermord einstufte. In der UN-Schutzzone Srebrenica wurden zwischen dem 12. und dem 17. Juli 1995 circa 8 000 bosnische Muslime, großenteils in gut geplanten und organisierten Massenexekutionen, durch bosnisch-serbische Einheiten ermordet. Das älteste Opfer war 77, das jüngste 13 Jahre alt.

Militärmission von Anfang an unter keinem guten Stern

Im Zuge der Kriege um die Auflösung des föderativen Jugoslawien war Bosnien-Herzegovina in den Focus der Auseinandersetzungen geraten, nachdem die jugoslawische Führung eingesehen hatte, dass die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens fait accompli war. In Bosnien wohnten orthodoxe Serben, katholische Kroaten und muslimische Bosniaken auf engem Raum zusammen, oft waren die Siedlungsgebiete eng verflochten und nicht leicht zu trennen. So waren die Serben in Bosnien, unterstützt durch das eigentliche Serbien, entschlossen, sich einen möglichst großen Anteil des Landes zu sichern. Als 1992 Bosnien und Herzegovina seine Unabhängigkeit erklärte, gründeten die Serben des Landes ihren eigenen „Staat“. Die daraus entstandenen Auseinandersetzungen hatten zu einer Intervention der UN geführt, die 1992 die UNPROFOR-Militärmission in Bosnien etablierten.

Diese stand von Anfang an unter keinem günstigen Stern. Die Serben blockierten die UN-Einheiten, schlossen sie ein, raubten ihnen schwere Waffen, entführten Hunderte von Blauhelm-Soldaten. Kurz, sie demonstrierten, dass sie in keiner Weise an einer Kooperation mit UNPROFOR interessiert waren. Die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Blauhelmeinsatz fehlten vollkommen, da es nicht einen Frieden oder Waffenstillstand zu sichern gab im Einvernehmen mit allen Konfliktparteien. Vielmehr waren die Serben entschlossen, mit militärischen Mitteln Fakten zu schaffen. Darin wurden sie von der internationalen Gemeinschaft indirekt bestärkt, weil die auf immer neue Provokationen schwach oder gar nicht reagierte. Die serbische Seite ging daran, ihr Territorium und das serbische Siedlungsgebiet zu arrondieren und ethnische Säuberungen vorzubereiten. Insbesondere um die Stadt Srebrenica wurde, nachdem bosnische Einheiten Serben vertrieben hatten, die Lage für die Muslime so bedrohlich, dass die UN eine Schutzzone einrichteten. Eine jahrelange serbische Belagerung begann, darauf angelegt, zu zermürben und eine unhaltbare Situation zu schaffen. Hilfskonvois wurden beispielsweise derart behindert, dass Menschen innerhalb des Belagerungsrings an Hunger und Erschöpfung starben.

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Schwere Vorwürfe gegen niederländische Blauhelmsoldaten

Die bosnisch-serbischen Truppen überrannten schließlich die Schutzzone in der zweiten Juliwoche 1995. Frauen, Kinder und ganz alte Männer wurden abtransportiert, bosniakische Männer und Jugendliche, die zuerst abgesondert worden waren, wurden in der 2. Juliwoche getötet. Schwere Vorwürfe wurden nun in Europa gegen die niederländischen Blauhelmsoldaten erhoben, die das Massaker nicht verhindert hatten. Sie hatten jedoch weder die militärische Ausrüstung noch ein Mandat für ein robustes Auftreten gegenüber den bosnischen Serben, die von Anfang an sehr aggressiv vorgegangen waren. UNPROFOR-Bitten um Luftwaffenunterstützung waren ohne Ergebnis geblieben.

Die internationale Gemeinschaft hatte ein weiteres Mal versagt – im Jahr zuvor waren etwa eine Million Tutsi in Ruanda im weltweit größten Völkermord seit dem II. Weltkrieg getötet worden, ohne dass es ein internationales Eingreifen gegeben hätte. Auch der massive Militärschlag, der zur Verhinderung des Genozids in Bosnien nötig gewesen wäre, blieb aus. Einer der Gründe, warum der Westen nicht militärisch eingriff, war die Tatsache, dass Hunderte von Blauhelmsoldaten in der Hand der Serben waren. Es hatte wohl Drohungen gegeben, diese könnten ermordet werden. Von Anfang an hatte man die Lage in Bosnien falsch eingeschätzt und sich nicht eingestanden, dass „weiche“ militärische Maßnahmen, die Militäraktionen im eigentlichen Sinn gar nicht vorsahen, angesichts brutaler, rücksichtsloser und allen anerkannten Werten gleichgültig gegenüberstehender Konfliktparteien eher kontraproduktiv waren.

Das Massaker muss in einem doppelten Kontext gesehen werden

Das Massaker muss in einem doppelten Kontext gesehen werden. Zunächst im „jugoslawischen“ Zusammenhang: Mit dem Zusammenbruch Jugoslawiens brach für die Serben eine Welt zusammen. Der Südslawen-Staat (Jugoslawien bedeutet „Südslawien“) war formal ein Bundesstaat gewesen, in welchem aber faktisch die Serben dominiert hatten. Es war ein vorwiegend serbischer Traum, der platzte. Alle anderen Teilrepubliken gewannen durch die Auflösung des sozialistischen Jugoslawien Unabhängigkeit und Freiheit – die Serben aber verloren „ihr“ Südslawenreich. Sie wollten soviel wie möglich davon retten und zumindest die serbischen Regionen in angrenzenden Staaten nicht verloren geben. Gerade die Gründung eines unabhängigen Staates Bosnien-Herzegovina war aus serbischer Sicht ein Affront – ein Hauptgrund dafür, dass dieser Staat bis heute nicht wirklich funktioniert beziehungsweise die Serben im Gesamtstaat praktisch nicht mitwirken, sondern ihre eigene politische Einheit (Republika Srpska) haben.

Das andere Problemfeld hat tiefere historische Wurzeln. Im serbischen Bewusstsein sind die Erfahrungen mit dem islamischen Osmanischen Reich ein tiefsitzendes Trauma. Seit dem 14. Jahrhundert hatte es ständig Konflikte zwischen Serbien und den türkischen Osmanen gegeben, in deren Imperium das einst stolze Zarenreich Serbien Mitte des 15. Jahrhunderts eingegliedert wurde. Erst im 18. Jahrhundert war die Osmanenherrschaft ganz überwunden. Die serbische Identität, der serbische Nationalstolz, vielfach getragen von der orthodoxen Kirche, hat – auch wenn es Konversionen zum Islam gab –  diese lange Periode überdauert. Der serbische Nationalismus hat dabei in der Auseinandersetzung mit dem Islam an Intensität, Schärfe und religiöser Färbung gewonnen. Auch Bosnien wurde zwischen 1455 und 1463 von den Osmanen erobert, 1485 folgte auch die Herzegovina. Bosnien-Herzegovina wurde die osmanische Provinz auf dem Balkan, die am intensivsten islamisiert wurde, doch die Hälfte der Einwohner blieb christlich. In Bosnien endete die Osmanenzeit erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gerade hier, wo es viele Muslime gab und gibt (die sich ethnisch nicht von den Orthodoxen unterscheiden) waren religiös bedingte Spannungen und politische Polarisierung stark. Ein literarisches Denkmal hat der versunkenen Welt des osmanischen Bosnien der jugoslawische Literaturnobelpreisträger Ivo Andric, ein katholischer Kroate, gesetzt. Seine beiden historischen Romane „Die Brücke über die Drina“ und „Wesire und Konsuln“ waren in den 1960er Jahren Bestseller.

Unabhängiges Bosnien vor allem muslimische Bestrebung

Ein unabhängiges Bosnien war vor allem eine muslimische Bestrebung. Das Massaker von Srebrenica hat deutlich gemacht, dass die Schatten der jugoslawischen und osmanischen Vergangenheit noch immer über dem Land liegen. In der (linken) Öffentlichkeit waren „Muslime“ 1995 noch kein Sympathiebegriff, deshalb wirkte Srebrenica nicht nach bis zum Kosovo-Krieg nur wenige Jahre später. Nicht die muslimischen Kosovaren als Opfer standen im Mittelpunkt, sondern – ganz in linker Tradition – der Protest gegen „US-Imperialismus“ und „NATO-Aggression“ gegen das zum Opfer stilisierte Serbien. Von 1993 bis 2017  hat ein Internationaler Strafgerichtshof der Vereinten Nationen für das ehemalige Jugoslawien  über 80 Täter verurteilt  (von insgesamt  circa 160 Angeklagten). Darunter befanden sich auch einige der Hauptschuldigen des Srebrenica-Massakers: Radovan Karadzic, Präsident der Republika Srbska, wurde 2019 zu lebenslanger Haft verurteilt. General Ratko Mladic, der militärisch Hauptverantwortliche für das Massaker, wurde 2017 ebenfalls zu lebenslanger Haft verurteilt. Der serbische und jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic starb 2006 in der Haft. Ausgeliefert hatte Serbien die Täter unter anderem auch deshalb, weil dies Vorbedingung für großzügige EU-Hilfen war. Inzwischen hat sich Serbien für das Massaker entschuldigt, als Genozid sieht es den damaligen Massenmord allerdings nicht. Anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises 2019 an den österreichischen Schriftsteller Peter Handke, der Serbien oft verteidigt und auch das Massaker von Srebrenica relativiert hatte, sagte eine der „Mütter von Srebrenica“: „Wenn Literatur etwas beinhaltet, das Verbrechen gutheißt, ist das eine Katastrophe, eine Niederlage für die Zivilisation.“

Alfred Schlicht ist Verfasser unter anderem von „Die Araber und Europa“, Stuttgart 2008 und „Gehört der Islam zu Deutschland“, Zürich 2017

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