Vieles ist zu den Vorwürfen geschrieben worden, die Historiker seit dem 2. März 2020 erheben, weil sie in den vatikanischen Archiven zugänglich sind und glaubwürdig darstellen, dass Josef Kentenich seine Macht und Stellung missbrauchte und Marienschwestern sowohl auf psychischer wie auf sexueller Ebene Leid zufügte. Auf die Veröffentlichung in der „Tagespost“ (DT vom 2. Juli: „Väter dürfen das tun“) und im Brief an den international arbeitenden Blogger Sandro Magister hin gab das Schönstattwerk offiziell bekannt, „alle“ Beschuldigungen zu kennen. Diese seien bereits während des Exils Kentenichs in den Vereinigten Staaten entkräftet worden. Der Gründer, heißt es in einem zweiten Schreiben, sei rehabilitiert. In Interviews, langen Übertragungen auf Zoom, Youtube und in anderen Veröffentlichungen auf den verschiedenen Internetpräsenzen Schönstatts wird sogar ein Rehabilitierungsdekret benannt. Und es wird auch gesagt, der „kirchlichen Autorität“, unmittelbar also der Diözese Trier, seien alle Anschuldigungen zugänglich gemacht: Deshalb könne der Seligsprechungsprozess weitergehen. Warum aber braucht die Diözese Trier nun eine Historikerkommission, um die Dokumente, die sie längst hat, in Rom zu suchen?
Opfer wurden kriminalisiert und pathologisiert
Der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs ist nämlich schon seit Kentenichs Exil bekannt und aktenkundig. Er selbst verteidigte sich dagegen. Der damalige General der Pallottiner – zu diesem Orden gehörte Kentenich – sparte keine Mühe, die Opfer zu kriminalisieren und meist zugleich auch zu pathologisieren. Die Briefe des Generals sind weithin bekannt, er verschickte sie gerne an viele Adressaten. Schließlich schrieben die Marienschwestern noch während der Visitation an den Papst und beschuldigten den Apostolischen Visitator Sebastian Tromp SJ, er würde von einer mangelnden „sittlichen Integrität“ des Gründers sprechen – sie seien sich sicher, dass das nicht stimme. Die Generalassistentin, Schwester Bonifatia, schreibt – in einem achtseitigen Brief, der im Apostolischen Archiv aufbewahrt wird –, die Schwestern, die den Gründer beschuldigten, seien „meiner Ansicht kaum 1%. Dabei handelt es sich meist um seelisch Kranke, um weniger brauchbare oder selbst fragliche Charaktere und um ausgetretene Schwestern“.
Natürlich kann man heute noch so tun, als sei das nichts, und dem allgemeinen Urteil von damals Glauben schenken, das in der Regel dem Opfer die Schuld gab: Bei sexuellem Missbrauch war gewöhnlich das Kind, oder im Fall Kentenichs die Frau, die Marienschwester, Schuld. Anfang der fünfziger Jahre einen sexuellen Missbrauch zu benennen, bedeutete für eine Frau das gesellschaftliche Aus. Dass überhaupt Marienschwestern das gewagt haben, zeugt von der bewundernswerten Stärke dieser Frauen. All dies sollte Schönstatt und auch der Diözese Trier doch bekannt sein.
Auch in einer im Verlag Herder erschienenen Hagiografie, der jeglicher Anmerkungsapparat und Hinweis auf die verwendeten Quellen fehlen, wird von Marienschwester Dorothea Schlickmann das Klischee hinsichtlich des Zweiten Vatikanums weiter verbreitet, wie es so oft von Schönstatt dargestellt wird: Kentenich habe eben ein prophetisches Charisma besessen und das Zweite Vatikanische Konzil vorweggenommen. Deswegen sei er vor dem Konzil unverstanden geblieben. Wäre das eine Erklärung für ein Rehabilitierungsdekret, dessen Existenz das Generalpräsidium und der Postulator Eduardo Aguirre vor kurzem behauptet hatten? Schließlich musste aber der ehemalige Postulator Angel Strada zugeben: „Es gibt kein Dokument dazu. Das Heilige Offizium hatte die Praxis, keine Aufhebungs-Dokumente auszustellen. ... Die Rehabilitierung Pater Kentenichs kann man folgenden Tatsachen entnehmen: Er kehrt von Milwaukee nach Rom zurück und macht mit Wissen des Heiligen Offiziums alle Sachen, die ihm vorher verboten waren: zum Beispiel übernimmt er wieder die geistliche Leitung der Marienschwestern und der Schönstatt-Bewegung.“
In einem hier veröffentlichten Brief Kardinal Joseph Ratzingers kann man lesen, dass auch diese letzte, diesmal inoffizielle, Version Schönstatts nicht stimmt. Der Brief Ratzingers ist bereits seit fast vierzig Jahren veröffentlicht und den Verantwortlichen bekannt (Acta Societatis Apostolatus Catholici, Rom, Bd. X, S. 601). Der Brief ist ein interessanter Beleg für das, was Kardinal Ratzinger – später Papst Benedikt XVI. – oft genug über die „Kontinuität“ der Kirche vor und nach dem Konzil erklärt hat: Die Wahrheit zur Kentenich-Legende zeigt deutlich, dass es keinen Bruch in der Kirchengeschichte gab, sondern die Kirche – trotz vieler wichtiger neuer Auslegungen und Antworten auf moderne Fragen im Konzil – im Wesentlichen sich selbst treu geblieben ist. Die Glaubenskongregation von 1982 bestätigt die Untersuchungen und Entscheidungen des Heiligen Offiziums von 1950 zu Pater Kentenich. Kardinal Ratzinger bestätigt explizit auch die Untersuchungsergebnisse der Visitatoren. Dass Pater Tromp sich dabei geirrt haben sollte, wird klar zurückgewiesen. War er zu hart gewesen? Mag sein, dass er, nachdem Weihbischof Bernhard Stein während der Visitation zu dem Schluss gekommen war, dass die Schwestern auf ihre Aussagen vorbereitet wurden, dass sie nicht ehrlich waren und schwer unter Druck gesetzt wurden, nicht allzu herzlich und einfühlsam war. Stein hatte festgestellt, auch schriftliches Material sei nicht vollständig abgeliefert worden. Diesem Eindruck des Visitators gab übrigens Pater Kentenich in einer langen Stellungnahme Recht. Offenbar galt das „Familiengeheimnis“ Schönstatts auch vor dem Visitator. Der damalige Bischof von Trier, Franz Rudolf Bornewasser, schreibt: „Was hier bei der Visitation geschah, war aber nicht nur ein Einzelfall, sondern bewusst geübte Methode – die, wie aus Ihren Darlegungen Seite 38ff. hervorgeht, und wie es in diesem Einzelfall praktisch geübt wurde, eine Schulung erfordert – die Vertretern der amtlichen Kirche gegenüber nicht am Platz ist. Ihnen muss die Einzelpersönlichkeit mit voller Offenheit und Freiheit gegenübertreten können, ohne vorher für ihre Aussagen geschult zu sein, und ohne dass sie aus ihren Aussagen Nachteile befürchten müsste.“
"Familiengeheimnis" auch vor den Visitatoren 'gewahrt'
In dem Brief Ratzingers ist auch, mit Blick auf die Visitation, von der „Lehre“ die Rede. Zur Lehre, die beanstandet wurde, zählen unter anderem bereits seit der diözesanen Visitation die Ausdrücke „Mehrung des Gnadenkapitals“ und „bilateralter Vertrag“, die Bezeichnung Schönstatts als „Lieblingsschöpfung“ und als „auserlesenes Werkzeug“. Ausdrücke wie „Schönstattreich“ sollten mit „Gottesreich“ ersetzt werden. Tromp verlangte zudem, über Schönstatt solle man ohne Hyperbeln sprechen, Ausdrücke wie Schönstatt als „Lieblingswerk Gottes“, „Geheimnis von Schönstatt“, oder „Depositum fidei“ Schönstatts, sollten vermieden werden. Aber es würde hier zu weit führen, Berichte und Briefe im Einzelnen wiederzugeben, eine wissenschaftliche Darstellung wird bald folgen. Daraus wird man schließen können, wie es danach zur Apostolischen Visitation kam, und warum der Ton des zweiten Visitators, Sebastian Tromp SJ, der sicherlich als „echter Holländer“ kein seichter Typ war, zugleich aber als gerecht und humorvoll beschrieben wird, nicht allen Schwestern genehm war. Es gibt aber auch Briefe von Schwestern, die davon zeugen, dass neben Respekt auch Vertrauen zum Visitator gewachsen war. Nach einer jahrzehntelangen Verleumdungskampagne gegen den Visitator findet seine Arbeit im Brief der Glaubenskongregation von 1982 eine Bestätigung.
Warum das Schönstattwerk sogar Aussagen eines alten, längst völlig erblindeten und ins Privatleben zurückgezogenen früheren Chefs des Heiligen Offiziums, Kardinals Ottaviani, von 1971 zitiert und behauptet, er habe Kentenich um Verzeihung gebeten, kann man vielleicht verstehen, wenn man sich vor Augen hält, was Pater Strada über Heilige in einem Interview sagt. Auf die entsprechende Frage antwortet Strada: „Heiligkeit bedeutet nicht Fehlerlosigkeit. Der heilige Petrus hat Jesus verleugnet. Der heilige Paulus hat Christen verfolgt. Franz von Assisi hat alles andere als eine heiligmäßige Jugend geführt. … Nur die Engel können ohne Fehler sein.“ Pater Kentenich fehlt zur Heiligkeit allerdings exakt das Wesentliche, das diese großen Heiligen auszeichnet: Diese haben sich bekehrt, und es wurde ihnen vom Herrn vergeben. Kentenich dagegen fühlte sich über alle erhaben: Über die weinend weglaufenden, missbrauchten Marienschwestern, denen er, der für sie ja – Gott Vater gleich! – Vater sein sollte, seine mehr als fragwürdigen Praktiken aufzwang, über viele Mitbrüder, die Pallottiner, die ihm schon im KZ ins Gewissen redeten, über die Bischöfe von Trier, über den diözesanen und den apostolischen Visitator, über die Konsultoren des Heiligen Offiziums, die Kardinäle derselben Institution und natürlich auch über Pius XII. Viele Jahre lang krähten für ihn die Hähne, aber er bereute offenbar nie etwas, sondern führte alles weiter, was ihm zu seinem Heil und dem Wohl seiner Anvertrauten verboten wurde. Die Kirche hat keinen „Rückzieher“ gemacht, und jeder Versuch, private Einzelpersonen gegen die ausgewogenen, vielleicht aus Rücksicht auf die beteiligten Personen zu zaghaften Entscheidungen der Kirche anzuführen, ist nur wieder ein Versuch, den Kult um eine Person zu rechtfertigen, der zumindest nach der „klassischen Moral“ nicht zu rechtfertigen ist.
Natürlich hat niemand das Recht, anderen vorzuschreiben, was sie glauben und denken sollen – oder wem sie folgen sollen. Nur wenn es um eine Seligsprechung geht, dann ist dieser Kult nicht mehr Privatsache. Und aus diesem Grund und nach langem Warten sowie mehrfachen Appellen an das Schönstattwerk, doch mit der historischen Wahrheit ans Licht zu kommen, ist es angebracht, diesen Brief von Kardinal Ratzinger einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Nun ist es an Schönstatt, seine Archive zu öffnen – auch für Externe –, eine Biografie und keine Hagiografie zu schreiben – oder eben weiterhin in einer Sonderwelt zu leben, in der die historische Wahrheit, die Kardinal Ratzinger so klar beschrieben hat, einfach ignoriert wird.
Eine Anfrage bei der Pressestelle des Schönstattwerks mit der Bitte um Stellungnahme zum neu aufgetauchten Brief Kardinal Ratzingers blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
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