Mit seiner jüngsten Veröffentlichung trifft Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller genau den Punkt, auf den alles zugehen sollte, was in der Kirche vermeintlich angepackt wird. Es geht um Gott. Es geht um die Offenbarung. Und es geht um den einzig wichtigen Inhalt des Dienstes der Kirche in der Welt von heute, in den Zeiten der Vergangenheit und auch in der Zukunft. Man kann es vielleicht nicht oft genug sagen, aber es geht um Gott. Dass einer der namhaftesten Theologen unserer Zeit mit einem fast 500 Seiten starken Buch darauf hinweist, verdient den allergrößten Respekt. Denn die Geschichte der Kirche war immer flankiert von philosophischen Ansätzen, die sich selbst zu einem Gegenüber zur kirchlichen Lehre, aber eben auch zu einem endgültigen Beweis der Nicht-Existenz Gottes stilisierten. Liberalismus, Kommunismus, „die“ Aufklärung, „die“ Moderne stehen synonym für alle Versuche sich an der großen Existenz Gottes abzuarbeiten, sie durch das innerweltliche Handeln „nach seiner je eigenen Façon“ gleichsam als bloße Idee oder als psychologisches Konstrukt zu entlarven und sie als unpassend, überholt oder machtorientiert zu disqualifizieren.
Zerrbild eines unfehlbaren Menschen
Nur wenige versuchen, diese historischen „Dauerbrenner“ in ihrer unhinterfragten Wanderzitation einer notwendig gebührenden Prüfung zu unterziehen. Hat die Aufklärung einfach deshalb Recht, weil sie Aufklärung ist? Stimmt es, dass der säkulare Mensch keinen Gott mehr versteht – oder redet man ihm das ein? Ist säkular das Gegenteil von gottgläubig? Wie selbstverständlich man in der geistesgeschichtlichen Situation vom eindeutigen „Beweis“ ausgeht, dass Gott nicht existiert, zeigt auch das Zerrbild eines unfehlbaren Menschen, dessen Urteil bedingungslos ohne Einschränkung stimmt. Nur, so könnte man schon fragen, wohin hat die menschenzentrierte gottlose Gesellschaft uns hingeführt? In die anthropologische Eindimensionalität reiner Innerweltlichkeit, in die Nationalismen des 19. Jahrhunderts, die zum Startschuss eines menschenverachtenden Jahrhunderts geworden sind, in die restlose Überforderung des Menschen, der keinerlei Mehrdimensionalität in der zusehends fragmentierten Gesellschaft mehr findet, halt- und sinnlos wird, weil sein weltlicher Wert durch Hunger, Elend, Krieg und Weltzerstörung ebenfalls gegen die berühmte „Null“ geht und er zur Manövriermasse politischer Hegemonien wird.
Nur Gott hat ihm gezeigt, dass alle Menschen gleich sind, dass der Tod nicht Bettler oder König kennt, dass der Wert, sein Wert, vor allem durch Gott geschützt wird, dem er sich von Anfang an verdankt. Wir werden ohne Gott nicht zu Menschen, sondern zum Konsumenten, zur Kommunikationsstruktur oder zum reinen Zahlenspiel. Dass sich die säkulare Welt selbst entzaubert, ihre Mythen kruder Horizontalität mit Freiheit und Selbstbestimmung schmückt, in Wahrheit aber etwas leugnet, wovon die Gesellschaft und ihre positive Gestaltung abhängt: Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit dürfen nicht von der Gnade weniger abhängen, sondern nur von dem, der allen Menschen Werden und Vollendung in der Liebe schenkt. Menschliches Regelwerk kann morgen schon wieder anders laufen. Wo heute die Revolution das Übel beseitigt, wird sie oft selbst übermorgen – wie so oft in der Geschichte leider belegt – selbst zum Übel. Das wusste schon George Orwell mit seiner „Animal farm“ zu erzählen.
Ernsthaftigkeit und wissenschaftliche Ausrichtung
Die Ernsthaftigkeit und die wissenschaftliche Ausrichtung des neuen Buches des ehemaligen Präfekten der Glaubenskongregation nehmen sich der skizzierten Themenfelder an. Sie beleuchten historische Märchen ebenso wie die tatsächlichen Grundlagen der Ereignisse, der geistigen Haltung und der philosophischen Ansätze auf dem Hintergrund der Forschung und der Quellen. Ein beruhigend ehrlicher Blick auf das, was oftmals nur „nach-gebetet“ wird und zum Bestandteil der Einschätzung dessen wird, was sich als seriöse Wissenschaft ausgibt.
Wer sich einen unverstellten Blick auf den Sozialismus, den Liberalismus, den kritischen Atheismus und die sogenannte postmetaphysische Zeit schenken möchte, der kann sich der Analyse dieses Buches nicht entziehen. Der enorme Gewinn der Lektüre liegt aber vor allem darin, dass der Leser Antworten, Wegweisungen und Argumente erhält, die den humanisierenden Charakter des Glaubens an Gott herausstellen. Der Leser wird sich am Ende die Frage stellen, warum es eine Scheu in der Welt und in der Kirche gibt, nicht klarer und mutiger den Glauben an Gott zu verkünden.
Der Autor führt aus dieser intellektuellen Enge und der Zuspitzung des kirchlichen Alltags auf Strukturdebatten heraus und zeigt mit aller Deutlichkeit, worauf es wirklich ankommt: Das Gespräch mit der Moderne zu führen – auf der Basis überzeugender Argumente, ehrlicher Geschichtsschau, philosophischer Erkenntnis und theologischer Durchdringung. Das ist Verkündigung des Glaubens an Gott in einem säkularen Zeitalter.
Gerhard Kardinal Müller: Der Glaube an Gott im säkularen Zeitalter.
Herder, Freiburg 2020, 496 Seiten, ISBN 978-3-451-38649-7, EUR 58,–