Sexueller Missbrauch

Missbrauch in Frankreich hatte ein erschreckendes Ausmaß

Scham über das Ausmaß der Missbrauchsfälle in Frankreich. Das Beichtgeheimnis verstößt nicht gegen Gesetze. Allgemeines Erschrecken über die Vorfälle.
Kommissionspräsident Jean-Marc Sauve spricht  über sexuellen Missbrauch in katholischen Kirche.
Foto: Thomas Coex (AFP Pool/AP) | Kommissionspräsident Jean-Marc Sauve spricht während der Veröffentlichung eines Berichts einer unabhängigen Kommission über sexuellen Missbrauch in der französischen katholischen Kirche.

Am 5. Oktober veröffentlichte die im Auftrag der französischen Bischöfe gegründete „Unabhängige Kommission für sexuellen Missbrauch in der Kirche“ ihren Bericht über den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen und schutzbedürftigen Erwachsenen durch Priester und Ordensleute seit den 1950er Jahren.
Der nach dem Vorsitzenden Jean-Marc Sauvé, einem früheren Richter und stellvertretenden Vorsitzenden des französischen Staatsrats, benannte 2 500 Seiten umfassende „Sauvé-Bericht“ förderte ein erschreckendes Ausmaß der Missbrauchsfälle in der Kirche in Frankreich zutage: geschätzt 216 000 Minderjährige wurden Opfer sexueller Übergriffe durch etwa 2 900 bis 3 200 Priester und Ordensleute. Würden Laien in kirchlichen Einrichtungen dazu gerechnet, so schätzte man die Opferzahl auf 330 000.

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Vorwiegend Jungen missbraucht

Laut Bericht waren 80 Prozent der Opfer Jungen im Alter von zehn bis 13 Jahren, 20 Prozent Mädchen unterschiedlichen Alters. Die Kommission, der Juristen, Mediziner, Historiker und Theologen angehören, wertete Archive in Kirche, Justiz und Medien aus. Laut dem Kommissionsvorsitzenden handelt es sich aber bei der Schätzung der Opferzahlen nicht um durch Quellen verbürgte Vorgänge, sondern um Hochrechnungen auf „sexualwissenschaftlicher Basis“. Papst Franziskus drückte den Opfern seine Trauer und seinen Schmerz aus. „Und meine Scham, unsere Scham, über die viel zu lang andauernde Unfähigkeit der Kirche“, die Betroffenen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen. Der Papst ermutigte „die Bischöfe und Ordensoberen, weiterhin alles zu tun, damit sich ähnliche Tragödien nicht wiederholen. Ich spreche den Priestern Frankreichs meine Nähe und meine väterliche Unterstützung angesichts dieses harten, aber heilsamen Prozesses zu und fordere die französischen Katholiken auf, ihre Verantwortung wahrzunehmen, damit die Kirche ein sicheres Haus für alle sein kann“.

Das Ausmaß der Sexualverbrechen im kirchlichen Umfeld sei „größer als befürchtet“, erklärte der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Eric de Moulins-Beaufort. Der Erzbischof von Reims bat die Opfer ebenfalls um Verzeihung. Nun gehe es darum, die Aufarbeitung weiter voranzutreiben. Die Kirche erwäge etwa, eine unabhängige Stelle zur Bewertung von Präventionsmaßnahmen einzurichten, sagte Erzbischof de Moulins-Beaufort der Zeitung „La Croix“. Bereits Ende März hatten Frankreichs Bischöfe bei ihrer Vollversammlung in Lourdes einen Katalog mit elf Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch beschlossen.

Milliarden gefordert

Der Gründer des Opferverbandes „La Parole Libérée“ (Die befreite Rede), François Devaux, mahnte die Kirche bei der Vorstellung des Sauvé-Berichts: „Sie müssen für alle diese Verbrechen bezahlen.“ Es werde um Milliardensummen gehen. Zusammen mit der Theologin Anne Soupa, die nach dem Rücktritt von Kardinal Barbarin „symbolisch“ als Erzbischöfin von Lyon kandidiert hatte, und mit Christine Pedotti, Redakteurin von „Témoignage chrétien“, fordert Devaux außerdem die französischen Bischöfe zum „kollektiven Rücktritt“ auf. Der Papst möge einen „Legaten“ für Frankreich ernennen. Dafür schlagen sie Schwester Véronique Margron vor. Die Dominikanerin ist Theologieprofessorin und Vorsitzende der Konferenz der Ordensmänner und Ordensfrauen in Frankreich (Corref).

Zu den 46 vom Bericht ausgesprochenen Empfehlungen zur Verhinderung von Missbrauch  gehört – außer besseren Kontrollmechanismen und absoluter Transparenz im Umgang mit Vorwürfen – der Vorschlag, gegen Bischöfe, Vorgesetzte von Ordensinstituten oder juristische Personen der Kirche zivilrechtlich vorzugehen. Die Kirche solle einen Entschädigungsplan „im Wert von mehreren Millionen Euro“ aufstellen.

Beichtgeheimnis auf dem Prüfstand

Dazu gehört indes auch die „Prüfung, wie sichergestellt werden kann, dass das Beichtgeheimnis die Anzeige von Straftaten in Fällen des Missbrauchs von Minderjährigen oder schutzbedürftigen Personen nicht ausschließt“. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz antwortete darauf, das Beichtgeheimnis sei „stärker als die Gesetze der Republik“. Eine wie auch immer geartete Aufweichung des Beichtgeheimnisses würde gegen das Kirchenrecht verstoßen.

Erzbischof Eric de Moulins-Beaufort wurde deshalb vom französischen Innenminister Gérald Darmanin zu einem Gespräch eingeladen. In einer Mitteilung äußerte der Erzbischof von Reims, dieses Gespräch sei „eine Gelegenheit, daran zu erinnern, dass das durch das Kirchenrecht auferlegte Beichtgeheimnis nicht gegen das Gesetz verstößt“. Es werde auch von der Republik anerkannt: „Für die Französische Republik ist es eine Ehre, die Würde des Gewissens eines jeden Menschen auf diese Weise zu respektieren.“ Wie Beichtväter zur Aufklärung beitragen können, ohne das Beichtgeheimnis zu verletzen, erklärt der 70-jährige Priester Pater Denis: Sollte er in der Beichte diese Sünde hören, so würde er nicht „von sich aus“ die Behörden informieren. „Ich würde zum Pönitenten sagen: Ich kann dir keine Absolution erteilen, solange du dich nicht bei der Polizei selbst angezeigt hast. Danach kannst du zu mir kommen und um Vergebung bitten.“

Wandel gefordert

In den Sozialen Netzwerken gab es zahlreiche Wortmeldungen, nachdem am 8. Oktober auf Twitter der „Hashtag“ #AussiMonÉglise (Auch meine Kirche) eingerichtet wurde. Hier werden „Reformen“ mit „einer echten Beteiligung der Laien“ gefordert, so Erwan Le Morhedec, einer der Initiatoren des Hashtags, gegenüber „Famille chrétienne“. Im Gespräch mit „France Info“ erklärt Timothé, ein Ingenieur aus Paris: „Auch wir Laien fordern einen radikalen Wandel, ein starkes Handeln. Die Veränderungen „müssen aus dem Inneren der Kirche kommen.“

In Deutschland hat nach der Vorstellung des „Sauvé-Berichts“ die „Betroffeneninitiative Süddeutschland“ eine ähnliche Studie für Deutschland gefordert. In einem KNA-Interview forderte der Mannheimer Psychiater Harald Dreßing, der die MHG-Studie koordiniert hatte, eine „auf einer großen Stichprobe basierende nationale Dunkelfeldstudie auch für die Bundesrepublik“. Im Gegensatz zu den Hochrechnungen des Sauvé-Berichts basiert die MHG-Studie von 2018, die größte Untersuchung in Deutschland, auf tatsächlich belegten Verdachtsfällen – ihr wurde nicht die mutmaßliche Dunkelziffer zugrunde gelegt.

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