Berlin

Michaelkirche: Die gescheiterte Wiedervereinigung

Der Mauerbau vor 60 Jahren riss die Berliner St.-Michael-Gemeinde in zwei Teile auseinander. Auch nach der Wende fanden die Gemeindeteile nicht mehr zusammen. 
St. Michael Gemeinde
| Trotz dem Fall der Mauer fand die St. Michael-Gemeinde nur schwer wieder zusammen. Erst die Pfarreifusionen der letzten Jahre vereinte die beiden Pfarreien unter einem Dach.

Rund um den Michaelkirchplatz in Berlin-Mitte, gleich an der Grenze zu Kreuzberg, ist es ruhig. Eine kleine Idylle mitten in der Großstadt, in der sich umgeben von viel Grün, etwas versteckt hinter Bäumen, eine mächtige Kirche erhebt. Doch wer sich der katholischen St.-Michael-Kirche nähert, wird schnell feststellen, dass sie ein Torso ist. In der Mitte des riesigen Baus klafft eine große Lücke. Denn die 1861 geweihte Kirche wurde im Krieg schwer zerstört. Insbesondere der Bombenangriff auf die Berliner Luisenstadt im Februar 1945 setzte dem Gebäude derart zu, dass nach dem Krieg sogar der Abriss vorgesehen war. Doch die Kirche blieb. Allerdings traf die Gemeinde mit dem Mauerbau 1961 erneut ein hartes Schicksal.

Nach dem Mauerbau verlor die Gemeinde fast 80 Prozent ihrer Mitglieder

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Einer, der sein ganzes Leben in der Gemeinde St. Michael verbracht hat, ist Thomas Motter, Vorsitzender des 2001 gegründeten Fördervereins zur Erhaltung der Kirche. 1951 geboren, wurde er zwar im katholischen Krankenhaus Maria Heimsuchung getauft, empfing aber in der Gemeinde die Erstkommunion und die Firmung. Als Ministrant erlebte er 1961, wie die Pfarrei über Nacht fast 80 Prozent ihrer Mitglieder verlor. Denn direkt hinter dem Engelbecken am Michaelkirchplatz verläuft die Grenze zwischen den Stadtteilen Mitte und Kreuzberg. Die politische Teilung der Stadt sei vor dem Mauerbau hier kaum sichtbar gewesen, erinnert sich Motter im Gespräch mit der "Tagespost". Nach dem Mauerbau gehörte Kreuzberg zu West-Berlin, lag plötzlich so nah und doch so fern. Nicht nur Familien und Freundeskreise wurden quasi über Nacht auseinandergerissen, auch die Pfarrgemeinde St. Michael war geteilt und sollte nie wieder in der ursprünglichen Form zusammenfinden.

In den 50er Jahren gab es jeden Sonntag mehr als 1000 Kirchgänger

"Vor dem Mauerbau war hier richtig was los", erzählt Thomas Motter. Nachdem der damalige Magistrat von Groß-Berlin die Pläne einer Autostraße vom Strausberger Platz Richtung Westen auch wegen der sich anbahnenden Teilung der Stadt nicht weiter verfolgte, begann 1952 der Wiederaufbau der Michaelskirche. Am Heiligen Abend 1953 konnte der Berliner Bischof Wilhelm Weskamm die Kirche wieder weihen. Einen Pfarrer und zwei Kapläne gab es damals, sonntags wurden fünf Messen gefeiert, auch deswegen, weil St. Michael nach dem Wiederaufbau nur noch 200 Plätze hatte. "Manchmal mussten wir vor der Tür warten, bis die vorherige Messe beendet war", berichtet Motter vom damals blühenden Gemeindeleben. Mehr als tausend Kirchgänger habe es damals jeden Sonntag gegeben, darunter gut 50 Ministranten. Acht von ihnen kamen aus der Familie Motter, sie wurden Motter eins bis Motter acht genannt. Thomas war Motter vier. Sein Vater und sein Onkel waren Zimmerleute, beteiligten sich am Wiederaufbau. Pfadfinder, katholische Jungengemeinschaft, alles habe es damals gegeben, trotz der politischen Teilung der Stadt ging das Gemeindeleben seinen Gang, als wäre nichts gewesen.

Statt Engelbecken Wachtürme der DDR

Doch nach dem Mauerbau wurde vieles anders. Das Engelbecken wurde zugeschüttet, stattdessen standen hier Wachtürme der DDR-Grenzer. Von den fünfzig Ministranten blieben zunächst ganze sechs übrig, statt fünf Sonntagsmessen gab es noch eine. Acht von zehn Gemeindemitgliedern wohnten jenseits der Mauer im Westen. Auch der Druck des DDR-Regimes habe danach zugenommen, erinnert sich Thomas Motter. Kirchliche Vereine waren nicht mehr gerne gesehen, nur Kolping sei noch akzeptiert worden. Doch die Jugendarbeit konnte weitergehen, Religionsunterricht oder Ministrantenstunden liefen unter der Überschrift "Pfarrjugend". Motter wurde Oberministrant und Pfarrjugendsprecher, die Zahl der Messdiener wuchs langsam wieder an. Dennoch wurden die beiden Kapläne schnell aus der Gemeinde abgezogen, sie wurden schlicht nicht mehr gebraucht. Der Pfarrer bekam eine Seelsorgehelferin, die benachbarten Marienschwestern kümmerten sich um Caritas-Dienste wie Krankenbesuche. Eine Fronleichnamsprozession war nach 1961 wegen der Lage direkt an der Mauer nicht mehr möglich. Zwar habe es Stasi-Spitzel in der Gemeinde gegeben, das sei auch aus den nach der Wende einsehbaren Stasi-Unterlagen hervorgegangen, aber "unter den gegebenen Bedingungen konnten wir ein ordentliches Gemeindeleben mit Berechtigung leben", meint Thomas Motter.

Auch auf der Westseite in Kreuzberg musste sich der Großteil der Gemeindemitglieder mit der Teilung abfinden. Das Bistum Berlin hatte die Teilung der Stadt offiziell nicht anerkannt, sodass die Gemeinde faktisch weiterbestand. Unmittelbar an der Mauer, nur gut 200 Meter von der alten Kirche entfernt, entstand 1964/65 eine neue Kirche im Stil der damaligen Zeit: ein wenig repräsentativer, viereckiger Betonbau ohne Kirchturm. Sie wurde am 25. April 1965 ganz bewusst nur benediziert, nicht konsekriert, um sie nach einer Wiedervereinigung als Gemeindesaal nutzen zu können. Über die getrennten Familien blieb die Verbundenheit zwischen den beiden Michaelsgemeinden mehr oder weniger erhalten, doch der Zusammenhalt bröckelte. Während die Gemeinde St. Michael in Mitte bemüht war, ihr katholisches Profil auch aufgrund des äußeren Drucks durch das SED-Regime zu wahren, rückte im Kreuzberger Gemeindeteil die Seelsorge an gesellschaftlichen Randgruppen in den Vordergrund: Sozial Benachteiligte, Obdachlose, Punks, Wehrdienstverweigerer - das "bunte Kreuzberg" spiegelte sich zunehmend in der Gemeindearbeit wider.

Kreuzberger Kirche wurde zu Treffpunkt für Obdachlose, Punks und Wehrdienstverweigerer

1984 kam Reinhard Herbolte als Gemeindereferent nach St. Michael Kreuzberg. Zusammen mit dem damaligen Pfarrer, Jesuitenpater Godehard Pünder, baute er gegen manchen Widerstand in der Gemeinde die Kreuzberger Kirche zu einem Treffpunkt für soziale Randgruppen aus, doch er kümmerte sich auch um die Kontakte über die Mauer hinweg. Schon in seiner Heimat in Nordrhein-Westfalen habe er Kontakte in die DDR unterhalten, erzählt Herbolte im Gespräch. Als er dann nach Berlin kam, setzte er diese Arbeit fort. West-Berlin sei damals eine Art "Umschlagsfeld" für Kontakte nach Ostdeutschland gewesen. So nahm er auch mit dem Pfarrer von St. Michael jenseits der Mauer rasch Kontakt auf. Mehrere Jubiläen standen damals an. Herbolte wollte erreichen, dass beide Gemeinden sie gemeinsam feiern. Aber auch an ganz gewöhnlichen Sonntagen seien sie rüber nach Ost-Berlin gefahren, hätten die Sonntagsmesse mitgestaltet, manchmal auch Kreuzwege, Gemeindefeste oder andere kleinere Feiern.

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So waren die Voraussetzungen nicht ungünstig, als 1989 die Mauer fiel. "Nach dem Mauerfall war die Stimmung richtig gut", erinnert sich Reinhard Herbolte. Nachdem Deutschland und Berlin wieder vereint waren, schien es folgerichtig, dass nun auch die Gemeinde St. Michael ihre Wiedervereinigung feiern konnte. Doch daraus wurde nichts. Zu sehr hatten sich die beiden Gemeindeteile voneinander entfernt, zu tief war das Engelbecken zwischen Mitte und Kreuzberg. Traditionsbewusstsein und Selbstbehauptung hier, Kirche im "Kiez" und Alternativen-Treffpunkt auf der anderen Seite - das passte nicht mehr zusammen. "Wir haben schnell festgestellt, dass es erhebliche Unterschiede gab", erinnert sich Thomas Motter. Dennoch habe man sich lange um Einheit bemüht. Fast zehn Jahre lang habe es gemeinsame Sitzungen der Pfarrgemeinderäte und Kirchenvorstände gegeben, wurde Weihnachten und Ostern gemeinsam in einer der Michaelskirchen gefeiert. Kirchweihe und Patronatsfest seien ohnehin schon vor dem Mauerfall zusammen begangen worden. Dennoch habe man schließlich "im beiderseitigen Einvernehmen" beschlossen, dass eine Gemeindefusion nicht stattfinden sollte.

Liturgische Konflikte mit der Kreuzberger Gemeinde

Auch Reinhard Herbolte hat auf der Kreuzberger Seite diese Zeit aktiv miterlebt. Bis 2007 war er hauptamtlich in der Gemeinde tätig. In der ehemaligen Ost-Gemeinde habe es manche Vorbehalte gegen die starke Fokussierung der Kreuzberger auf die Sozialarbeit gegeben, wenn auch nicht von allen. Auch liturgisch gab es Konflikte. Mitte der 90er Jahre eskalierte der Streit - ausgerechnet an den Ostertagen. Man wollte die Feiertage gemeinsam begehen, eine Arbeitsgemeinschaft hatte ein Programm entworfen. Doch daraus wurde nichts. Die Fußwaschung war der Stein des Anstoßes. Der Pfarrer der Ost-Gemeinde weigerte sich, Frauen die Füße zu waschen - für die Kreuzberger nicht nachvollziehbar. "Wir waren nicht bereit, in der Liturgie so viele Rückschritte zu machen", erzählt Susanne Deufel-Herbolte rückblickend, ehemalige Pfarrgemeinderatsvorsitzende in Kreuzberg. "Die Fußwaschung war für uns ein wichtiges Zeichen, an der alle teilhaben sollten." Die Osternacht feierte man noch gemeinsam, das Festprogramm wurde stark reduziert. "Irgendwas war damals gebrochen. Das war der Knall, der aber nicht offen ausgetragen wurde", blickt Reinhard Herbolte zurück.

Die Gründung größerer Pfarrverbände tat ein Übriges: Im Jahr 2000 ging St. Michael Kreuzberg mit Nachbargemeinden wie Liebfrauen und St. Marien zusammen, die Ursprungsgemeinde St. Michael Mitte fusionierte mit der Kathedralkirche St. Hedwig. Ironie der Geschichte: Gerade die umfangreichen Pfarreifusionen sorgten am Ende doch noch für eine "Wiedervereinigung im Kleinen". Anfang dieses Jahres entstand die Großpfarrei Bernhard Lichtenberg in Berlin-Mitte, Prenzlauer Berg und Kreuzberg. In ihr sind auch die Pfarrei St. Hedwig, zu der St. Michael Mitte gehört, und St. Marien Liebfrauen mit der Kreuzberger Michaelskirche aufgegangen. So sind knapp 30 Jahre nach der politischen Wiedervereinigung beide Gemeinden doch wieder unter einem gemeinsamen Dach vereint - und das in versöhnter Verschiedenheit.

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