Rezension

Katholisch-sein: Zwischen Dogma und Lebensgefühl

Was ist das Wesen des Katholizismus? Dieser Frage geht Gerhard Kardinal Müller in seinem neuen Buch nach.
Priester während einer Messe im Petersdom
Foto: Alessandra Tarantino (AP) | Das Katholische beherbergt viele verborgene Schätze. Das neue Buch "Was ist katholisch" von Gerhard Kardinal Müller möchte wesentliche Elemente der Kirche näher beleuchten - oder näher heran zoomen.

Im Zeitalter verwischter Klarheit und des „anything goes“ in Gesellschaft und Kirche werden Menschen verunsichert und sie vermissen zugleich einen Halt, ein Geländer, das ihnen einerseits Sicherheit schenkt, andererseits auch erst die Befähigung, sich mit Themen auseinanderzusetzen. Klarheit ist Voraussetzung eines Dialogs und einer sachlichen Diskussion. Wofür steht der Gesprächspartner? Welche Positionen vertritt er? Wenn alles gleich ist, alles den selben Stellenwert hat, so verpufft die Bereitschaft, für etwas einzustehen und sich dafür einzusetzen. Auch der Katholik ist in dieser Zeit schon länger angekommen und weiß oft nicht mehr genau, was der Inhalt seines Glaubens ist. Er wird mit gesellschaftlicher Buntheit konfrontiert, der sich die Kirche uneingeschränkt anbiedern müsse.

Die Gefahr einer bedeutungslos gewordener Kirche

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Was bleibt? Eine Kirche, deren Bedeutung hinter der politischen und gesellschaftlichen Vorgabe zurückbleibt, deren Verkündigung an der Stimmgewaltigkeit einer andauernden Beeinflussung und Bevormundung auseinanderbricht. Wo bleibt die Darstellung der katholischen Weite, der Schönheit und Wirkmächtigkeit ihres kulturellen und geistigen Erbes, das einer Gesellschaft heute erst ermöglicht, die freie Diskussion zu führen und die Grundlagen eines vernünftigen Miteinanders zu gestalten? Die Trostlosigkeit innerweltlicher Begrenzung wird doch erst aufgebrochen durch den Einsatz der Vernunft, die uns Menschen eine Dimension schenkt, derer wir uns nicht erfreuen könnten, wenn das Leben ohne Sinn und Ziel wäre. Vielleicht entspringt die Abwesenheit des Katholischen der Unkenntnis der reichhaltigen Tradition, der Nicht-Lektüre der Heiligen Schrift, dem Ausblenden theologischen und philosophischen Denkens und der fehlerhaften Interpretation dessen, was katholische Kirche ist.

Man könnte also sagen, dass mit dem neuen Buch von Kardinal Gerhard Müller ein Buch zur rechten Zeit erschienen ist. Es trägt den Titel: „Was ist katholisch?“ und es gibt dem Leser einen Einblick in die großen Linien der Entfaltung des katholischen Denkens und Fühlens auf der Basis einer umfangreichen Kenntnis der biblischen, philosophischen, theologiehistorischen und systematisch-dogmatischen Fundamente.

Katholisch-sein ist eine Lebensentscheidung

Der Autor hat kein Lehrbuch verfasst und will keinen Katechismus ersetzen. Er beschreibt das Wesen des Katholischen im Rahmen und unter den Bedingungen der gegenwärtigen geistigen und weltpolitischen Lage und mit Blick auf das sehr persönlich gehaltene Kapitel, das er vielsagend überschrieben hat mit: „Wie ein katholisches Bewusstsein entsteht: ein Selbstexperiment“. Katholischsein ist eben nicht nur das Anhängen einer bestimmten Lehre, eines Regelwerks der Rubrizisten, sondern die existenzielle Annahme einer Lebensentscheidung, zu der die Feier der Eucharistie als Kulminationspunkt kirchlicher Identität gehören und das Bekenntnis zum Dreifaltigen Gott – in dem auch die alles entscheidende Frage nach der Gottessohnschaft Jesu Christi mitgedacht ist. Gerade in dieser Schau auf Christus liegen auch die Chancen für ein ökumenisches Erfolgserlebnis. Das gemeinsame Hinwenden und das Ausrichten auf den gekreuzigten und auferstandenen Herrn ist die eigentliche Ökumene, die auch dem Willen Jesu entspricht: „Ich will, dass alle eins seien.“

Eine kleine Studie über das katholische Denken und Glauben

Wer sich authentisch und kenntnisreich darüber informieren will, was es heißt, katholisch zu sein, sollte die fünf Kapitel der knapp über 300 Seiten von Kardinal Müller lesen.
Dass der Autor den Leser dabei hineinnimmt in die Facetten wissenschaftlicher Forschung, intellektueller Erkenntnis und glaubhafter Vermittlung in einer allen gerecht werdenden Sprache, ist das große Verdienst der Studie, die kein essenzielles und für das katholische Denken und ihren Glauben spezifische Thema in der nachmetaphysischen Zeit ausspart: Wesen und Wirkung der Sakramente, das Geheimnis der Eucharistie, Kirche und Kirchlichkeit, den Schöpfungsglauben, die Erlösung und das ewige Leben, das Leben aus dem Glauben und die ethische Umsetzung.

Mit seiner neuen Publikation richtet sich der vormalige Präfekt der Glaubenskongregation Kardinal Gerhard Müller an die Zweifler und Gegner der katholischen Kirche mit der Einladung, unvoreingenommen und objektiv die katholische Welt zu betreten, aber auch an die Reform-Eiferer, deren kirchlicher „Reset“ die denkerischen und glaubenden Linien zum Ursprung abzuschneiden droht. Was würde bleiben? Eine Kirche, deren Ursprung im Willen Jesu liegt oder ein Konstrukt der Subjektivität?

Eine Analyse für Interessierte und Fragende

Die Analyse des Kardinals richtet sich somit an alle Interessierten und ehrlich Suchenden und Fragenden. Die großen Themen der Menschheit sind von der Theologie und der Philosophie bearbeitet worden: Gott, Welt, Mensch, Sinn und Sein. So Vielfältiges liegt in den nur fünf Begriffen, sodass alle Suchenden Antworten und Anregungen finden könnten – das ist der große Verdienst des Autors und seiner Weltreise durch den katholischen Glauben.


Gerhard Kardinal Müller: Was ist katholisch? Herder, Freiburg, 2021, 318 Seiten, ISBN: 9783451390746, EUR 24,–

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