Eminenz, als Sie 2010 Erzbischof von Prag wurden, feierte die katholische Kirche das Jahr der Priester, das Papst Benedikt ausgerufen hatte. Wie würden Sie die Situation in jenem Jahr beschreiben?
Im Jahr 2010 hatten wir einen langen Weg nach der Wende hinter uns. Die Voraussetzungen für die Gründung aller kirchlichen Einrichtungen waren geschaffen sowohl in den Bistümern, Orden als auch in den Pfarrgemeinden. Das betraf auch Caritas, kirchliche Schulen und die theologische Fakultät. Man konnte der Mehrzahl der Priester und Gläubigen auch eine gewisse Müdigkeit anmerken. Nach der Wende haben wir viele Kräfte als Mitarbeiter für die Kirche verloren, weil sie in den Staatsdienst gingen.
Diese Katholiken haben dann zwar eine Rolle in der Gesellschaft gespielt, aber in der Kirche fehlten sie erst einmal. Dann kam eine neue Generation, und inzwischen stehen wir eigentlich wieder am Anfang. Wir sind jetzt zwar frei, tragen aber nach der Rückgabe der Kirchengüter auch wirtschaftlich Verantwortung. Das ist eine völlig andere Situation. Die Kirche ist keine Non-Profit-Organisation mehr. Das war ein großes Problem für meine Generation, denn wir hatten keine Erfahrung mit der Verwaltung. Wir haben unter der kommunistischen Knute als Proletarier gelebt (lächelt).

Was braucht die Kirche in Tschechien nun?
Wir sitzen im selben globalen Boot und erleben derzeit eine große Migration, nicht nur von Personen, die in die EU wollen, sondern auch der neuen Ideologien, die durch alle Institutionen verbreitet werden. Und wir stehen vor einer Kulturrevolution. Die Protagonisten dieser Kulturrevolution sind geistige Kinder von Mao Tse-tung. Es geht um die totale Vernichtung unserer menschlichen Identität von Anfang an. Wenn Menschen nicht in Mann und Frau unterschieden werden, als was dann? Das ist die Frage. Es geht um "fließende Grenzen zwischen den Geschlechtern", wie Papst Franziskus es einmal gesagt hat.
Das große Problem für die Kirche ist, dass die Mehrheit der Katholiken davon überzeugt ist, dass diese Entwicklung eine positive Veränderung darstellt. Natürlich gibt es positive Neuerungen in Wissenschaft und Technik, aber das ist nur ein Teil unseres Lebens. Nach der Euphorie der Wende, in der wir Zahlen in Klöstern und Seminaren hatten wie in der Barockzeit, erleben wir nun eine Krise. Die jungen Männer und Frauen in Seminaren und Klöstern sind auf die neuen Ideologien nicht vorbereitet. Wir müssen wieder einmal für unsere christliche Zivilisation kämpfen wie im 16. Jahrhundert zur Zeit des Konzils von Trient.
Kardinal Duka auf dem 52. Internationalen Eucharistischen Kongress
Wie sehen Sie die Rolle Roms in dieser Auseinandersetzung?
In Rom ist die Kirche stärker denn je mit technischen und ökologischen Problemen beschäftigt. Dafür hat die Kirche aber keine Kompetenz, nur wenige können in fachlichen Diskussionen qualifiziert mitreden. Wir können nur die theologischen und ethischen Fragestellungen beurteilen. Aber in Europa hat die Kirche den missionarischen Elan weitgehend verloren.
"Der theologische Vordenker des Pontifikats
war immer Kardinal Ratzinger
mit seiner großen Begabung."
Welche Rolle spielte Papst Benedikt für die Kirche in Tschechien?
Das Pontifikat von Papst Benedikt war für uns sehr wichtig. Er ist einer der vier großen Päpste des 20. Jahrhunderts, neben Pius XI., Pius XII. und Johannes Paul II. Papst Wojtyla war ein Prediger, der wie jeder Prediger eine Grundlage brauchte: wirkliche Theologie. Der theologische Vordenker des Pontifikats war immer Kardinal Ratzinger mit seiner großen Begabung.
Wir haben gespürt, dass die Kirche damals neue Kraft bekommen hat. Die politische Wende von 1989 wäre ohne die Kirche nicht möglich gewesen. Papst Johannes Paul II. und Kardinal Ratzinger haben unsere Situation in Mitteleuropa innerlich perfekt gekannt. Ich bin überzeugt, dass Papst Benedikt für die kulturelle Entwicklung bei uns eine große Rolle gespielt hat. Das konnte man auch sehen.
Wann zum Beispiel?
Beim Besuch des Papstes hier in Prag 2009. Im Vladislav-Saal in der Prager Burg warteten Vertreter aller Universitäten auf ihn wie Studenten auf ihren Lehrmeister. Benedikt hat diese Rolle exzellent gespielt. Er sprach nicht vom Papstthron, sondern als Professor auf dem Katheder im Hörsaal. Das war ein großer Erfolg. Zur Messe in Brünn kamen genauso viele Menschen wie zu den Messen Papst Johannes Pauls II. in Tschechien. Auch die Zahlen der Theologiestudenten und Schüler an katholischen Schulen ist gestiegen. Am Ende des Pontifikats von Papst Benedikt war sie dreimal so hoch wie zu Beginn. Es war eine große Chance für die junge Intelligenz.
"Wir brauchen wissenschaftliche Theologie,
nicht nur narrative Theologe."
Die katholische Kirche befindet sich in einem Synodalen Prozess. Wo sehen Sie Unterscheidungsbedarf?
Ich möchte auf die Erfahrungen der tschechischen Katholiken verweisen: Von 1997 bis 2005 haben wir die Nationalsynode der katholischen Kirche in der Tschechischen Republik gehalten. Die Vorbereitung darauf dauerte ungefähr vier bis fünf Jahre. Es gab zwei Generalversammlungen, zwischen denen ein Jahr Pause lag. Bei der ersten Versammlung herrschte große Begeisterung, die zweite war eine Enttäuschung.
Was war passiert? Es gab ein falsches Theologieverständnis: Theologie ist in erster Linie Studium und keine Praxis. Und wenn nun gesagt wird: Wir brauchen mehr Demokratie in der Kirche antworte ich: Nein. Das klassische Verständnis von Demokratie im antiken Griechenland unterscheidet sich grundlegend von unserem heutigen Demokratiebegriff. Die Griechen verstanden unter Demokratie die Partizipation der Freien an der Regierung, nicht die aller Menschen.
Wir Katholiken müssen seriös beobachten und abwägen, wo demokratische Prozesse nötig sind und wo auch Kompetenz gefragt ist. Und was die Wirkung anbetrifft, ist zu sagen, dass Papiere in der gesamten Geschichte der Kirche keine so große Rolle gespielt haben wie heute angenommen wird. Die Kirche hat noch nie so viele Papiere produziert wie heute. Aber selbst ein so bedeutendes Konzil wie Trient hat die Kirche nicht durch Papiere verändert. Ich selbst schaffe es nicht, den "Osservatore Romano" jede Woche ganz zu lesen. Es waren die Männer und Frauen der Zeit, die die Kirche erneuert haben. Solche Männer und Frauen brauchen wir auch heute.
Welchen Eindruck haben Sie vom Synodalen Prozess in Ihrem Land?
Es gibt einige vernünftige Einwürfe in den Vorschlägen der tschechischen Katholiken für den Synodalen Prozess, die beispielsweise die Praxis der Hausbesuche in den Pfarrgemeinden betreffen. Aber hinter die Debatte um den priesterlichen Zölibat setze ich ein Fragezeichen. Es gibt keine Religion ohne Zölibat. Wenn nun gesagt wird, es fehlen die Berufungen, so ist zu sagen: Sie fehlen bei allen christlichen Kirchen und zwar bei anderen noch mehr als in der römisch-katholischen Kirche.
Bei uns hat die Tschechoslowakische Kirche (eine moderne Abspaltung der römisch-katholischen Kirche, A.d.R.) bereits 1947 die Priesterweihe für Frauen eingeführt. Die Zahl der Gläubigen ist von einst einer Million auf 10 000 gesunken. Und was den Zölibat betrifft, zitiere ich einen griechisch-katholischen Bischof, der einmal sagte: "Es gibt Probleme mit dem Zölibat, aber andere haben ohne Zölibat andere Probleme."
Ich bin überzeugt, dass weder die Abschaffung des Zölibats noch die Zulassung von Frauen zum Weiheamt einen Weg darstellen, um das eigentliche Problem zu lösen.
Wir brauchen wissenschaftliche Theologie, nicht nur narrative Theologe. Und Identität sowie die Bereitschaft, zu dienen. Warum hat mehr als die Hälfte der jungen Leute Angst, eine Ehe einzugehen? Warum fehlen die Pflegerinnen in den Krankenhäusern? Wir brauchen lebendige Christen, Frauen und Männer. Die Theologen sind ängstlich, wie man in der Debatte um gleichgeschlechtliche Paare gesehen hat. Ärzte, Juristen und Psychologen haben sich klar gegen die "Ehe für alle" ausgesprochen; die Theologen nicht.
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