Die Bilder brennender Kirchen in Chile stellen europäische Sehgewohnheiten auf den Kopf. Eine politisch korrekte Lesart bescheinigt dem Land paradoxerweise, insgesamt auf einem guten Weg zu sein, weil die Ära Pinochet der Vergangenheit angehört und mit der Einführung der straffreien Abtreibung in bestimmten Fällen sowie dem Siegeszug der LGBT-Bewegung als Errungenschaften missdeutete gesetzliche Freiräume entstanden sind. Dabei veranschaulicht Chile, dass die Säkularisierungswelle nach westlichem Industriestaatenmuster kein Garant für eine tolerante Gesellschaft ist. Die von keiner staatlichen Institution geschützten brennenden Gotteshäuser, darunter eine der ältesten Pfarrkirchen von Santiago, sind kein Betriebsunfall. Dasinternationale Hilfswerk „Kirche in Not" verweist in dieser Woche auf mehr als 57 kirchliche Einrichtungen, die in Chile seit Oktober 2019 angegriffen und niedergebrannt wurden.
Zerstörung bedauert
Diese Statistik lässt darauf schließen, dass die Freiheit in dem einst als erzkatholisch belächelten Land nicht angekommen ist. Chiles Kulturminister hat die Zerstörung zweier Gotteshäuser zwar bedauert, ob aber der Staat für sein Versäumnis auch die Verantwortung übernimmt und den Wiederaufbau finanziert, steht indes in den Sternen. Die Bilder aus Santiago erinnern eher an Gesellschaften, in denen der Begriff „Rechtsstaat“ ein Fremdwort ist, auch wenn der chilenische Staat auf der weltpolitischen Bühne im Großen und Ganzen als anschlussfähig gilt. Um die Zukunft der Religionsfreiheit in dem Land hatte sich bis dato auch keine westliche Regierung vernehmbar den Kopf zerbrochen. Die Bundeszentrale für politische Bildung hält immerhin noch vorsorglich Material bereit, das sorgenvoll das „schwierige Erbe“ der Pinochet-Diktatur thematisiert.
Soziale Unruhen
Soziale Unruhen in einem mehrheitlich von getauften Christen bewohnten Land haben aber in dieser Woche mehr Gewalt gegenüber der Kirche freigesetzt, als mit dem landläufigen Lateinamerikabild als dem christlichsten aller Kontinente vereinbar wäre. Dabei fällt auf, dass sich die Kirche in Chile zwar auf das Mitgefühl der jüdischen und muslimischen Bevölkerung stützen kann, aber auffälliges ökumenisches Schweigen herrscht. Mit unmissverständlicher Klarheit hat das Islamische Zentrum „Mezquita As-Salam“ im Namen aller im Land lebenden Muslime die Zerstörungen verurteilt und klar Position bezogen gegen „die Schmähung religiöser Symbole sowie den geistlichen Schaden, der durch die Anschläge entstanden ist“. Auch die Stellungnahme der jüdischen Gemeinde lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.
Keine Solidarität
Doch wo bleiben die in Lateinamerika so zahlreich vertretenen protestantischen Gemeinden, Pfingstkirchen und Freikirchlicher? Wer hier mit öffentlicher Solidarität rechnet, stößt unsanft an die Grenzen seines ökumenischen Wunschdenkens. Das Minimum an christlicher Solidarität, der Respekt vor den Kultstätten anderer Konfessionen und Gruppen, ist in Lateinamerika keine christliche Realität. Im Gegenteil: Legt man die Erfahrungen von Katholiken in anderen lateinamerikanischer Staaten zugrunde, ist nicht einmal auszuschließen, dass unter den knapp sechzig zerstörten Gotteshäusern in Chile auch manche Anschläge auf das Konto erbitterter Christen gehen könnten, deren Hass auf die katholische Kirche und antiklerikale Gewaltbereitschaft jener von Kommunisten und Anarchisten mitunter in nichts nachsteht.
Fehlende Unterstützung
Diesen Umstand zu verdrängen, tut dem aus dem Gleichgewicht geratenen ökumenischen Realitätssinn in Deutschland nicht gut. Statt dogmatischer Spielereien mit Blick auf die unverantwortbare Mahlgemeinschaft wäre mit Blick auf Chile ein offenes Wort unter Christen angesagt: Mit welchem Recht verweigern die Anhänger Jesu, gleich welcher Konfession und Gemeinschaft, einander in der Not ein Minimum an gegenseitiger Unterstützung?
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