Enttäuschungen sind gut, weil Täuschungen schlecht sind, pflegte der Philosoph Robert Spaemann (1927–2018) zu sagen. Den unermüdlichen Streiter für die „alte Messe“ hätten die empfindlichen Beschränkungen für die überlieferte Liturgie, die Papst Franziskus beschlossen hat, zweifellos bekümmert. Doch dialogfreudig und weitblickend, wie Spaemann war, wäre er erfreut gewesen über das kürzlich im „Figaro“ erschienene Plädoyer seines französischen Kollegen Michel Onfray für die „alte Messe“. Onfray bezeichnet sich zwar als Atheist, verteidigt aber gleichwohl, was traditionsbewussten Katholiken heilig ist. So hat er in der Öffentlichkeit einen kostbaren Gesprächsfaden gesponnen, mit dem er einen Austausch über das Heilige und die Anbetung fördert.
"Alte Messe" hat das Potenzial zu einer Graswurzelbewegung
Onfrays Artikel gehört zu den vielen überraschenden Reaktionen auf „Traditionis custodes“. Statt des befürchteten Kahlschlags deutet manches auf eine chancenreiche Graswurzelbewegung hin. Von Wien bis Springfield/USA solidarisieren sich Bischöfe mit den Gläubigen, die das Messopfer in der überlieferten römischen Form feiern. Dass deren Gemeinden den Glauben konsequent leben wollen, steht auch für jene Hirten außer Frage, die selbst die erneuerte Form nach dem Missale Pauls VI. zelebrieren.
Früchte von "Summorum pontificum": junge Messbesucher und geistliche Berufungen
Man würde die Kraft des Gebetes unterschätzen, wenn man nun das Motu proprio betrübt als den Schlussstrich unter „Summorum pontificum“ ansähe. Der liturgische Frieden, den der emeritierte Papst Benedikt XVI. mit diesem Dokument fördern wollte, ist noch immer ein Ziel. „Summorum pontificum“ hat gute Früchte getragen, vor allem die vielen jungen Messbesucher, Familien mit Kindern und geistliche Berufe, die aus den Reihen der Ecclesia-Dei-Gruppen hervorgegangen sind. Selbst in Frankreich, wo Fragen der Tradition gewöhnlich mit höherer Betriebstemperatur behandelt werden als hierzulande, haben die Bischöfe keinen Zweifel daran gelassen, dass die Tradis einen Schatz hüten, keine Asche.
"Alte Messe" ist Ort der Christusbegegnung
Die „alte Messe“ wird weiterhin ein Diskussionsgegenstand bleiben, doch die Mühen der Ebene sind auch eine missionarische Chance. Allein die Opfer, die viele Gläubige bringen, um an der überlieferten Form teilnehmen zu können, sind ein Glaubenszeugnis. Das Leiden vieler Anhänger der alten Messe an liturgischen Missbräuchen kann im Zug der Überlegungen, wie die Bistümer mit „Traditionis custodes“ praktisch umgehen, wieder zur Sprache kommen – und das ist gut so, denn diese Gespräche müssen in den Ortskirche geführt und nicht länger vertagt werden.
Das entspräche nicht nur der Sehnsucht der Menschen nach würdigen Messfeiern, sondern auch dem Wunsch des Papstes nach einer dezentraleren Kirche. Die Erfahrung vieler Tradis, dass die „alte Messe“ auch in einer weitgehend säkularisierten Welt der Ort par excellence ist, an dem sie Christus begegnen können, wiegt heute schwerer als in der Volkskirche der nachkonziliaren Jahre.
Die Hoffnung, dass es jenseits der Banalität des Alltags etwas Größeres gibt, beseelt Zeitgenossen, mit denen die Kirche den Dialog sucht. Und genau hier können immer mehr junge Traditionalisten mitreden, die selbst nicht aus praktizierenden katholischen Familien stammen. Über die Zukunft der „alten Messe“ entscheiden dialogfreudige Beter wesentlich mit.
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