Seit seiner Reise nach Mexiko im März 2012 - die noch mit einem Aufenthalt auf Kuba verbunden war - lastete auf Papst Benedikt XVI. eine schwere zusätzliche Sorge: Er spürte zunehmend, dass seine körperlichen Kräfte nicht mehr reichten, um sein Amt angemessen auszuüben. Der Schlaf brachte keine Erholung mehr, die Arbeit des nächsten Tages begann er genauso zerschlagen, wie er sie am Abend zuvor beendet hatte. Es folgten der letzte Akt im Fall Vatileaks, der Prozess gegen seinen diebischen Kammerdiener Paolo Gabriele, und das Weltfamilientreffen in Mailand. Dann zog sich Benedikt nach Castelgandolfo zurück, um den letzten Band seiner Jesus-Trilogie abzuschließen - über die Kindheitsgeschichte des Herrn.
Körperlich erschöpft, geistig nicht eingeschränkt
In diesen Monaten fiel der Entschluss: Der Papst sah die Zeit gekommen, einem Nachfolger den Weg zu bereiten. Wie er in einem letzten Interview mit Peter Seewald für dessen Ratzinger-Biografie erklärt, hatte er ebenso wie seine Vorgänger Paul VI. und Johannes Paul II. eine bedingte Rücktrittserklärung unterzeichnet - "für den Fall einer Krankheit, die eine angemessene Ausübung des Amtes unmöglich machte". Dies habe er bereits "relativ früh" in seinem 2005 begonnenen Pontifikat getan. Doch dann sei ihm gegen Ende seiner Amtszeit klar geworden, dass neben einer möglichen Demenz "auch andere Formen von nicht mehr genügender Fähigkeit zur rechten Amtsführung möglich sind". Diesen Fall, die "körperliche Erschöpfung", ohne geistig eingeschränkt zu sein, sah er jetzt bei sich eingetreten. Andere Gründe - der Verrat seines Kammerdieners, eine Verschwörung in der Kurie oder eine Distanzierung von den Zuständen in der Kirche von heute - hat er als Emeritus immer energisch von sich gewiesen.
Es folgte die überraschende Ankündigung seines Rücktritts vor den Kardinälen bei einem Routine-Konsistorium am Rosenmontag 2013. Und schließlich der letzte Tag seines Pontifikats am 28. Februar. Dreizehn Tage später stand Franziskus auf der Loggia des Petersdoms, verbeugte sich vor dem Menschenmeer und wünschte allen einen guten Abend.
Dieser erste Rücktritt eines Papstes nach langen Jahrhunderten - und die wenigen Papstrücktritte der Geschichte waren mit dem Benedikts nicht zu vergleichen - hat nicht nur Spekulationen zur Folge. Auch einstige Vertraute des deutschen Papstes meldeten Bedenken an. So meinte Kardinal Walter Brandmüller, ehemals Präsident des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaft, im Oktober 2017 gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": "Den Papa emeritus als Figur gibt es nicht in der ganzen Kirchengeschichte. Und dass ein Papst jetzt hergeht und eine zweitausendjährige Tradition umstößt, das hat nicht nur uns Kardinäle total überfahren."
Die spirituelle Zuordnung bleibt
Tatsächlich war die Konstruktion des "emeritierten Papstes" eine einsame Entscheidung von Benedikt XVI. gewesen. Aber er hat sie anschaulich erklärt. In dem letzten Interview für die ihm gewidmete Biographie von Peter Seewald legte er dar, dass diese Lösung der von 1936 bis 1968 amtierende Bischof von Passau, Simon Konrad Landersdorfer, gefunden habe, der zwar mit dem Ende seiner aktiven Bischofszeit wie damals üblich Titularbischof eines untergegangenen Bistums wurde, aber, so Papst Benedikt, sagte, er wolle nach seinem wirklichen Bischofssitz eigentlich keinen fiktiven bekommen. Es müsse doch genügen, dass er "emerito" von Passau war. "Das Wort ,emerito' besagte", so Benedikt in dem Interview weiter, "dass er sein Amt voll abgegeben hatte, aber die geistige Verbundenheit zu seinem bisherigen Sitz wurde nun auch als rechtliche Qualität anerkannt". Die neue, nach dem Zweiten Vatikanum geformte Bedeutung des Emeritus schaffe keinerlei Beteiligung am konkreten Rechtsgehalt des Bischofsamtes, "sieht aber zugleich die spirituelle Bindung als eine Realität an. So gibt es nicht zwei Bischöfe, wohl aber einen geistlichen Auftrag, dessen Wesen es ist, von innen her, vom Herrn her, im betenden Mitsein und Fürsein seinem bisherigen Bistum zu dienen." Und es sei nicht einzusehen, so Benedikt, "warum diese Rechtsfigur nicht auf den Bischof von Rom ebenfalls angewandt werden soll. In dieser Formel ist beides mitgegeben: keinerlei konkrete rechtliche Vollmacht mehr, aber eine spirituelle Zuordnung, die - wenn auch unsichtbar - bleibt."
Dem widerspricht in der jüngsten Ausgabe des "Vatican-magazins" Kardinal Gerhard Müller, der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation auch er ein einstiger Vertrauter des deutschen Papstes, der als Herausgeber der Gesammelten Schriften von Joseph Ratzinger diesem auch heute noch sehr verbunden ist. Die derzeitige Situation, dass im Vatikan zwei Männer den Papst-Titel tragen, stellt für ihn eine noch nicht gelöste "Herausforderung an unser Verständnis von sakramentaler Kirche und heiligem Petrus-Primat dar. Sie besteht darin, eine plausible theologische Deutung der derzeitigen Ausnahmesituation zu finden, dass im Herzen der Heiligen Römischen Kirche derzeit ,zwei Nachfolger des Apostels Petrus zu leben scheinen."
Nicht Einheit, sondern Vielheit
Denn zwei Personen könnten nicht, wie es in "Lumen gentium" 23 heiße, "das immerwährende, sichtbare Prinzip und Fundament für die Einheit der Vielheit von Bischöfen und Gläubigen" verkörpern. Der übliche Verweis auf die Möglichkeit der Emeritierung von Diözesanbischöfen, so Müller, "übersieht das Alleinstellungsmerkmal des römischen Bischofs, der persönlich der Nachfolger Petri ist und damit den Felsen darstellt, auf den Jesus Seine Kirche baut. Der Unterschied besteht darin, dass er nicht nur wie die anderen Bischöfe Nachfolger der Apostel im Kollegium aller bischöflichen Mitglieder ist. Der Papst ist spezifisch und individuell Nachfolger des Apostels Petrus, während die Bischöfe nicht Nachfolger eines einzelnen Apostels sind, sondern nur der Apostel im Allgemeinen." Denn die Zahl Zwei stelle im Gegensatz zur Zahl Eins logisch nicht die Einheit, sondern die Vielheit dar.
Eine mögliche Lösung des Dilemmas für zukünftige Fälle von Papstrücktritten könnte für Müller darin bestehen, dass der ehemalige Pontifex "im engsten Umkreis der römischen Kirche Bischof von Ostia wird, ohne dort aktiv die Leitung der Diözese übernehmen zu müssen oder als Kardinal aktiv an der Papstwahl oder gar beratend an den Konsistorien teilzunehmen". Der Titel "Papst" jedoch sei ausschließlich die "allgemein üblich gewordene Amtsbezeichnung für die dem Bischof von Rom zukommenden Prärogative als Nachfolger Petri. Aber jeder Bischof von Rom ist Nachfolger Petri nur, solange er der aktuelle Bischof von Rom ist. Er ist nicht Nachfolger seines Vorgängers und darum kann es niemals gleichzeitig zwei römische Bischöfe, Päpste und Nachfolger Petri geben."
Wie dem auch sei: Die Gestalt eines zurückgetretenen Papstes ist fast acht Jahre nach dem historischen Schritt von Benedikt XVI. ein Faktum, das sich weder rückgängig machen lässt und dessen Wiederholung in der Zukunft auch nicht auszuschließen ist. Es wird wohl ein Nachfolger von Franziskus sein, der irgendwann dauerhaft definieren wird, wie ein Nachfolger Petri nach seiner Demission theologisch und kirchenrechtlich einzuordnen ist.
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