Die Schrift ist das lebendige Zeugnis der Kommunikation zwischen Gott und seinem Volk. Israel ist nicht nur stummes Objekt des göttlichen Geschichtswillens, sondern Gesprächspartner. Das Volk Israel hat die Taten Gottes immer wieder erinnert, es hat Gott persönlich angesprochen, es hat ihn gepriesen, es hat ihn gefragt und auch alle seine Leiden geklagt.
Antwort auf das Wirken Gottes
Die Antwort Israels auf die Taten Gottes hat selbst Eingang gefunden in die Heilige Schrift. Im Alten Testament stellt die Sammlung von 150 Psalmen den größten zusammenhängenden Schatz dieser Antwort dar. Im Hebräischen werden die Psalmen als „Sefer tehillim“, Buch der Lobpreisungen, bezeichnet und erfahren dadurch schon eine Deutung. Die Psalmen sind literarische Texte, die Freude und Hoffnung, als auch Angst, Trauer und Klage zum Ausdruck bringen. Im Buch der Psalmen münden sie alle in den einen Lobpreis Gottes, der durch die Zeit hindurch von denen weitergetragen wird, die ihr Leben mit dem in der Geschichte handelnden Gott in Verbindung bringen.
Das ganze Leben
Die 150 Psalmen bilden ein breites Spektrum an unterschiedlichen Themen ab. Einige erzählen von Gottes Taten in der Geschichte, andere zeigen das ambivalente Verhalten Israels, das auch das eigene Versagen vor Gott und dessen Willen zur Vergebung in den Psalmen reflektiert. Weitere Themen beziehen das schöpferische Handeln Gottes, sein Walten in der Natur und Gottes unbegreifliche Größe in den Lobpreis mit ein. Dazu wird in den Psalmen immerzu die Sehnsucht des Menschen nach Gott sichtbar, seine Suche nach ihm, seiner Gerechtigkeit und seiner Herrschaft.
Kultischer Vollzug
Das Beten der Psalmen hat im Leben des Volkes Israel, aus dem es hervorgegangen ist, einen hohen Stellenwert und stellt einen kultischen Vollzug dar. Nicht nur deshalb, weil in den Psalmen der Jerusalemer Tempelkult selbst einen festen Ort besitzt, sondern weil das Psalmengebet nach der Zerstörung des Tempels eine wichtige kultische Funktion übernommen hat, vor allem im Synagogalen Gottesdienst: „Mein Bittgebet sei ein Räucheropfer vor deinem Angesicht, ein Abendopfer das Erheben meiner Hände. (Psalm 141, 2)“
Aufgrund der festen Verwurzelung der Psalmen im Leben Israels, ihrer Beheimatung im privaten und öffentlichen Gebet und wegen ihrer theologischen Bedeutung innerhalb der Heiligen Schrift, versteht sich, dass die Psalmen den Glauben und das Beten der frühen Christen beeinflussten und Eingang gefunden haben in die sich entwickelnde Liturgie der frühen Kirche. Wenn heute innerhalb des kirchlichen Lebens Psalmen gebetet, gesprochen oder gesungen werden, zum Beispiel im Stundengebet, im Antwortpsalm des Wortgottesdienstes, in Gotteslobliedern in vertonter Form, beim Tischgebet, et cetera, dann entsteht unweigerlich eine Verbindung zu der langen Kette von Menschen, durch deren Münder und Herzen die Psalmen gegangen sind und bis heute im Gottesdienst jeder Synagoge auf der Welt gehen. Von diesem Wissen geht eine Ehrfurcht aus, die der Alttestamentler Erich Zenger (1939–2010) als bleibendes Postulat versteht: „Wenn Christen die Psalmen der Bibel rezitieren, dürfen sie nicht vergessen und verdrängen, dass diese zuallererst die Gebete Israels waren – und bis zum Ende der Zeiten bleiben!“
"Als Christen müssen wir
zuerst einmal Jesus im Licht
des Alten Testaments lesen."
Von frühen Christen übernommen
Ein Verdienst der ersten christlichen Jahrhunderte war es, den Psalmen einen weiteren Bedeutungsinhalt abzugewinnen, der eine christliche Leseweise der Texte ermöglicht. Was bedeutet das? Bereits bei den Evangelisten und neutestamentlichen Autoren wird eine tiefwurzelnde und unzertrennbare Beziehung zwischen den beiden Testamenten sichtbar. In der Verlautbarung des Apostolischen Stuhls (VAS) 152 „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ wird diese Beziehung folgendermaßen verstanden: „Im Lichte des Alten Testaments versteht das Neue Testament das Leben, den Tod und die Verherrlichung Jesu (vgl. 1 Korinther 15,3–4).
Doch ist die Beziehung wechselseitig: Auf der einen Seite will das Neue Testament im Lichte des Alten gelesen werden, auf der anderen Seite lädt es aber auch dazu ein, das Alte Testament im Lichte Jesu Christi „neu zu lesen“ (vgl. Lukas 24, 45).“ Als Christen müssen wir zuerst einmal Jesus im Licht des Alten Testaments lesen.
Jesus legt die Schrift aus
Eine davon ausgehende Interpretation fragt nach dem, was ein Text auf Christus hin zu sagen hat. Im Lukasevangelium exerziert Jesus diese Leseweise der Heiligen Schrift vor, indem er den beiden Jüngern, die nach Emmaus unterwegs sind, als unerkannter Begleiter den Zusammenhang zwischen der Heiligen Schrift Israels und seinem Schicksal herstellt. In Lukas 24, 27 heißt es: „Und Er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht.“
Jesus legt hier also selbst aus, was aus der Schrift zum Verstehen des „Christusereignisses“ nötig ist. Damit wird eine doppelte Leseweise der Texte des Alten Testaments nahegelegt. Einerseits ergibt sich ein ursprünglicher Sinn, der sich auf den ersten Blick erschließt und andererseits zeigt sich ein vertieftes Verständnis, das im Licht Christi erschlossen wird.
Psalmen und Christus
Die VAS 152 verweist auf die lange jüdische Tradition, die es gewohnt war, einen Text in verschiedener Weise neu zu lesen. So las man etwa die Geschichte vom Manna neu; man leugnete nicht die ursprüngliche Vorgabe, doch vertiefte man den Sinn, indem man im Manna das Sinnbild des Wortes erblickte, mit dem Gott beständig sein Volk ernährt (vgl. Deuteronomium 8, 2–3) und betont zugleich, dass eine neue Deutung im Lichte Christi nicht den ursprünglichen Sinn beseitigt.
Auch die Psalmen sind ein Teil dieses wechselseitigen Prozesses. So hat der Kirchenvater Augustinus dem Beter der Psalmen folgenden Rat mit auf den Weg gegeben: Bei einem Psalm sei darauf zu achten, ob seine Worte an Christus, über Christus oder als Worte Christi verstanden werden können.
Die Psalmen, die als Schrifttexte einen exponierten Sitz im Leben hatten und haben, wurden von Jesus Christus nicht nur selbst gebetet, sondern deuten das Leben Jesu. Am bekanntesten ist hier vielleicht das Zitat aus Psalm 22 „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen“, das die Evangelisten Markus und Matthäus dem am Kreuz sterbenden Jesus in den Mund legen. Psalm 22 wird so zum Subtext einer Einordnung der Kreuzigung Jesu. Erst durch eine Kenntnis des ganzen Psalms macht der Ausruf Jesu Sinn. Denn der Psalm thematisiert nicht nur die Situation der Verlassenheit und der Todesangst, sondern bringt auch das Vertrauen und die Gewissheit des Beters vor, dass Gott denjenigen erhört, der in seiner Not zu ihm schreit! Die alttestamentliche Verbindung lässt also in der vermeintlichen Haltung der Verlassenheit eine vertrauensvolle Haltung erkennen und stellt so das Sterben Jesu in ein neues Licht.
Neue Bedeutung durch Christus
Neben der Bedeutung, die Psalm 22 vom Alten Testament her für das Sterben Jesu freigibt, erhält Psalm 22 nun auch vom Christusereignis her eine neue (weitere) Bedeutung. Durch die Auferstehung Jesu wird das Rettungshandeln Gottes, das Psalm 22 thematisiert, um die Hoffnung auf die existenzielle Rettung im Tod erweitert. Das Schicksal Jesu, der gestorben und auferstanden ist, konkretisiert das Handeln Gottes wunderbar in eben jenem Vers, den der Beter des 22. Psalms sprechen darf: „Du hast mir Antwort gegeben!“
Wir Christen dürfen die Psalmen daher als vielschichtiges Bindeglied verstehen. Sie verbinden uns mit der Heiligen Schrift, deren Teil sie sind, sie verbinden uns mit jenen, die sie beten und sie verbinden, von jedweder Richtung her gelesen, das Alte und das Neue Testament.
Jesus als Beter
Jesus ist der exemplarische Beter der Psalmen gerade dann – und nur dann – wenn er mit uns allen – seinen jüdischen Brüdern und uns Christen – zum Vater mit den Psalmen betet. Im eigenen Gebet der Psalmen binden wir unser eigenes Leben in diese Bezüge mit ein und geben zugleich Antwort auf Gottes Wirken in der Geschichte. Nicht umsonst hat Jesus uns im Vaterunser ein Gebet aufgetragen, das aus einem Psalm heraus formuliert ist, der Gottes Geschichte mit seinem Volk meditiert (Psalm 103). Dieser endet mit ebenjener Antwort, die auch im Magnifikat widerhallt und ebenso die unsrige werden darf: „Preise den Herrn, meine Seele!“
Kurz gefasst
2019 führte Papst Franziskus den Sonntag des Wortes Gottes am dritten Sonntag im Jahreskreis ein. In den deutschen Bistümern wird er am angestammten Termin des ökumenischen Bibelsonntags gefeiert – dem letzten Sonntag im Januar. Aus diesem Anlass befasst sich der Autor mit dem Psalmengebet – dem Bindeglied par excellence in der liturgischen Praxis von Juden und Christen. Schon in den ersten christlichen Jahrhunderten etablierte sich eine neue Lesart der Psalmen, die sich bis heute im Stundengebet der katholischen Kirche fortsetzt: Die Texte wurden mit Blick auf das kommende Christusereignis gedeutet.
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