Das sittliche Versagen der Christen ist nicht erst in unseren Tagen ein Ärgernis, es begleitet die Christenheit seit den Anfängen. Man denke an Judas, der als Apostel zum Prototyp des Verräters geworden ist. Augustinus berichtet aus dem fünften Jahrhundert davon, dass die ihm nahestehenden Menschen abgeschreckt wurden „durch das Leben der falschen und schlechten Christen“. Und er rief aus: „Wie viele möchten gerne Christen sein, aber sie werden beleidigt von den Sünden der Christen. Man lobt die Kirche Gottes und die Christen. Hört das einer, der nicht weiß, dass dabei die Schlechten verschwiegen werden; er kommt, angezogen durch das Lob und wird abgestoßen durch die unwürdigen Christen.“
Ignatius erlaubt es nicht
Um das zweite Jahrtausend zu zitieren, sei der Materialist und gnadenlose Kritiker jeder Religion, Paul Henri Thiry d‘Holbach (gestorben 1789), erwähnt. In seinem „Dictionnaire abrégé de la Religion Chrétienne“, einer Persiflage auf das Christentum, notierte er unter dem Begriff „Compagnie de Jésus“, das sind die Jesuiten, mit erschreckendem Aktualitätsbezug: „Wo immer man sie Dienst tun lässt, gerät alles außer Rand und Band. Jedoch lassen sie im Allgemeinen die Frauen ungeschoren, wohingegen die kleinen Jungen nicht so billig davonkommen.“ Voltaire war da noch gnädiger. Zum Stichwort „Sokratische Liebe“ (Homosexualität) bemerkte er in seinem 1764 erschienenen „Dictionnaire philosophique portatif“,wenn Jesuiten ihre Zöglinge missbrauchten, habe man nicht das Recht zu behaupten, Ignatius von Loyola habe ihnen dies erlaubt.
So sehr Voltaire die katholische Kirche hasste, war ihm doch bewusst, dass sie nicht vom Prinzip her das Böse guthieß, sondern dass es die Glieder der Kirche waren, die ihren Meister durch ihr Verhalten verrieten. Dass es sich bis heute genauso verhält, muss man denen in der Kirche entgegenhalten, die den Missbrauchsskandal instrumentalisieren, um mit den sattsam bekannten Postulaten eine „andere“ Kirche zu fordern. Denn solche Forderungen sind ein Missbrauch des Missbrauchs.
Ein Schalter geschlossen
Statt dieses unredlichen Manövers bedarf es des Eingeständnisses, dass die Kirche in verschiedener Hinsicht vom Weg ihrer Mission abgekommen ist und gerade deshalb in der Missbrauchskrise, von der auch andere gesellschaftliche Institutionen betroffen sind, besonders stark gegensteuern muss. Die Kirche ist von ihrem Wesen her eine Religionsgemeinschaft, die den Menschen in die ewige Gemeinschaft mit Gott führen soll. In den letzten Jahrzehnten haben jedoch weite Teile der kirchlichen Leitung im Westen, wie der Philosoph Giorgio Agamben treffend festgestellt hat, den „eschatologischen Schalter geschlossen“. Wahrgenommen wird die Kirche heute deshalb primär als Moralinstanz und als politischer Akteur, wobei letzteres noch eine Potenzierung des Moralismus bedeutet. Nicht etwa eine robuste Individualmoral hat die Kirche jedoch verkündet.
Vielmehr hat sie nicht selten verdrängt und davon abgelenkt, dass sie selbst aus Sündern besteht, indem sie sich in einer unangemessenen Weise in aller Öffentlichkeit als regierungstreuer Lehr- und Zuchtmeister einer mainstreamkonformen öffentlichen Moral profiliert hat. Sie hat sich in ihrer Staatsähnlichkeit gesonnt und das nachhaltig-umweltschonende, links-grün-migrationsfreundliche sowie politisch korrekte Gutmenschentum propagiert. Diejenigen, die hier anders denken, hat sie zum Teil ohne jede Barmherzigkeit moralisch verurteilt.
Schadensbegrenzung
Vom Hochsitz der Moral herab geschleuderte Urteile fallen nun auf die Kirche zurück, wenn die Leichen aus ihrem Keller ans Tageslicht befördert werden. Denn jede von Menschen bevölkerte Institution hat solch einen Keller, wenn es nicht ein ganzer Friedhof ist. Und es ist, wie man dem eingangs zitierten Wort Augustins entnehmen kann, töricht, dies beim eigenen Agieren nicht immer auch in Rechnung zu stellen. Und so gilt: Je erbarmungsloser man moralisch auf andere eindrischt, desto ungnädiger wird man an den eigenen Maßstäben gemessen.
Zur Schadensbegrenzung gehört es dann zwar zweifellos, dass Missbrauch bestraft wird. Dabei gehört es nicht zu den kleineren Pointen der Missbrauchskrise, dass dieselben Kreise, die jahrzehntelang über das Kirchenrecht gelacht haben, nun nach dessen Verschärfung und strikter Anwendung rufen.
Keine abschließende Lösung
Auch die Aufarbeitung der Vergangenheit mittels Studien und das Verfassen von „Best Practices“ sowie „Rules of Conduct“ sind sinnvolle Maßnahmen, zu welchen schon die menschliche Klugheit rät. Aber auch sie stellen noch nicht die abschließende Lösung dar. Diese liegt darin, dass die Kirche sich wieder auf das besinnt, was sie ist: Göttliches Werkzeug des Heils, nicht Weltverbesserungsagentur und moralischer Zuchtmeister der politischen Kultur.
Die klassischen Katechismen, allen voran der „Katechismus der Katholischen Kirche“, geben hier das Maß vor. Letzterer behandelt zuerst die Glaubenslehre: Wer ist Gott, wer ist der Mensch, was tut Gott für den Menschen und wozu beruft er ihn. Sodann werden im zweiten Teil die Zeichen des Heils, die Sakramente, erklärt, die den Menschen in Gottes Gemeinschaft führen und diese stärken sowie – wo nötig – wieder heilen. Erst der dritte Teil ist der Moral, den Geboten, gewidmet. Er beginnt mit den Worten Papst Leos dem Großen: „Christ, erkenne deine Würde! Du bist der göttlichen Natur teilhaftig geworden, kehre nicht zu der alten Erbärmlichkeit zurück und lebe nicht unter deiner Würde.“
Leben in Würde
Das gute Leben ist somit kein Selbstzweck, sondern ein „Zweites“: Es ist die Antwort auf das Geschaffen- und Geliebtsein durch Gott. Das Sollen folgt dem Sein. Und folglich ist es der Auftrag der Kirche, dem Sein in der Verkündigung den Vorrang zu geben: durch Verkündigung des unverkürzten Evangeliums, durch Sakramentenspendung und Seelsorge. Wenn dann als „Zweites“ seitens der Kirche vom Leben gemäß der eigenen Würde, also von der Moral, gesprochen wird, muss es zuerst einmal um die Individualmoral gehen. Denn gerade diese wurde vielfach nicht mehr unverfälscht gelehrt. Und gerade gegen sie wurde von Missbrauchstätern gehandelt. Wenn es sodann um die evangeliumsgemäße Gestaltung der Welt geht, sind primär die einzelnen Christen dazu aufgerufen.Denn es ist gemäß dem II. Vatikanum Ausdruck ihrer Mündigkeit zu entscheiden, mit welchen politischen Mitteln dies im konkreten Fall geschehen soll.
Die in dieser Stunde geforderte Reform der Kirche besteht somit in der Selbstbesinnung auf ihr Wesen und auf ihren eigentlichen Auftrag, spirituell gesprochen: in der Rückkehr zum Herrn. Gefordert ist damit zugleich eine neue Bescheidenheit. Denn die Kirche beziehungsweise ihre Bischöfe und Priester sind nicht zur Mitregierung der Welt berufen, sondern zur Vermittlung des göttlichen Heils.
Bescheidenheit der Kirche besteht nicht in spektakulären Rücktrittsangeboten ihres Führungspersonals, sondern in der ehrlichen Selbstbescheidung und in der Konzentration auf den Auftrag, um dessentwillen sie besteht. Wenn diese Rückbesinnung auf die eigentliche Sendung und eine neue Bescheidenheit im Auftreten gegenüber der Gesellschaft der „Ertrag“ der Missbrauchskrise sind, wird Gott auf krummen Zeilen gerade geschrieben haben.
Kein Moralist
Sittliches Versagen von Christen wird es auch weiterhin geben. Es gehört zur condition humaine der Kirche. Aber eine demütige Kirche, die dies anerkennt, wird sich nicht mehr als unglaubwürdiger Moralist aufspielen vor der Welt.
Denn sie weiß nun: „Bis es einen neuen Himmel und eine neue Erde gibt, in denen die Gerechtigkeit wohnt, trägt die pilgernde Kirche in ihren Sakramenten und Einrichtungen, die noch zu dieser Weltzeit gehören, die Gestalt dieser Welt, die vergeht, und zählt selbst so zu der Schöpfung, die bis jetzt noch seufzt und in Wehen liegt und die Offenbarung der Kinder Gottes erwartet“ (Lumen Gentium, Nr. 48). Eine Kirche, die demütig in diesem Geist lebt, lehrt und wirkt, wird trotz ihrer Makel wieder einladend sein: als Zeichen der Hoffnung nicht bloß auf eine bessere, sondern vor allem auf eine andere Welt.
Christen dürfen keine Moralisten sein