Was, wann, von wem als Problem empfunden, wie und nach welchen Maßstäben Personen, Vorgänge und so weiter beurteilt, wer, von wem und weshalb Politiker, Künstler, und so weiter bewundert oder verabscheut werden – wer weiß es! Schon dem mittelalterlichen Denker war aber eines klar: Ebenso wie auf den Gegenstand kommt es auf denjenigen an, der ihn – den Gegenstand – erkennt. Kein Zweifel: Jeder hat eine von der des anderen verschiedene Brille, durch die er die Welt um sich herum erblickt – und dann kommt es auch noch auf die Perspektive an, aus der man sie wahrnimmt.
Skandal in aller Munde
Das gilt – mutatis mutandis – auch von Ideen, Verhältnissen, Verhaltensweisen, kulturellen, gesellschaftlichen Phänomenen jeder Art. Die Sicht von allem – oder doch nicht allem – ist also relativ. Welche sich überlagernden, einander widerstrebenden Gedanken sich dabei ergeben, zu welchem Urteil über Welt und Menschen, zu welchen Haltungen und Entschlüssen sie schließlich führen – wer weiß es schon. Individuum est ineffabile – der beziehungsweise das Einzelne ist nicht aussagbar. So die Philosophie von Platon und Aristoteles bis Martin Heidegger und so weiter.
All dies gilt auch von einem Thema, Problem, Skandal, der seit Jahr und Tag in aller Munde ist: Es ist der sexuelle Missbrauch von Kindern, Jugendlichen, der seit dem Beginn unseres Jahrtausends vor allem die Gesellschaften Amerikas und Europas erschüttert.
Opfer im Mittelpunkt
Nun ist es keine Frage, dass es sich hierbei um ein abscheuliches Verbrechen psychisch kranker oder zynischer Täter handelt, das die Gesellschaft, die Familien in ihrer Integrität betrifft, besonders aber die Opfer in ihrer personalen Würde, ihrer seelischen Gesundheit häufig lebenslang verletzt und belastet. Es ist darum ebenso unverständlich wie bestürzend, dass erst in den beiden letzten Jahrzehnten Umfang, Ausmaß und Folgen dieses Verbrechens der breiten Öffentlichkeit bewusst wurden.
Dass es sich hierbei nicht um ein bisher unbekanntes Phänomen handelt, bedarf keines Hinweises. Bemerkenswert hingegen scheint es, wenn immer von sexuellem Missbrauch die Rede war, dass es vor allem, wenn nicht immer, um den Täter ging. Dessen Untat, dessen Motive und Handlungsweisen wurden erörtert, nach psychisch-pathologischen Ursachen gefragt – und dergleichen mehr. Vom Opfer, dessen traumatischem Erleben und den zerstörerischen Folgen, der lebenslangen Belastung durch das Erlittene war – soweit erinnerlich – kaum je die Rede. Dass all dies heutzutage nun auf einmal im Mittelpunkt des Interesses steht, ist zweifellos ein bedeutender Fortschritt. Dass Missbrauch nunmehr aber als gesamtgesellschaftliches Phänomen wahrgenommen wurde, hat zunächst wohl mit einer Art „Sprachhemmung“ zu tun, die zur Folge hatte, dass bislang dergleichen eher verschwiegen wurde. Insbesondere vermochten die Betroffenen selbst oftmals lange Zeit das Erlittene nicht zur Sprache zu bringen, ohne dass alte Wunden wieder aufbrachen. Ohnehin waren sehr intime Erlebnisse nichts, worüber man sprach.
Sex als großes Thema
Daran hatte sich in der Folge nicht wenig geändert. Im deutschen Sprachraum war hierfür der Boden durch eine Entwicklung bereitet, die im Gefolge des sogenannten Wirtschaftswunders auftrat: Nach den Entbehrungen der Kriegs- und noch mehr der Nachkriegsjahre war es zuerst die bald so genannte Fresswelle, die die Bundesrepublik überrollte. Die nächste aber war die Sexwelle, die im Handumdrehen die Massenmedien überflutete. Hatte die erstere schwerwiegende gesundheitliche Schäden zur Folge, so unterspülte die andere die ohnehin durch Drittes Reich und Weltkrieg erschütterten sittlichen Fundamente der Gesellschaft. Angefangen vom McKinseys Report über „Jasmin“ und Oswald Kolle, Cohn- Bendit und andere wurde „Sex“ in allen Formen zum Thema, und Beate Uhses Unternehmen florierte. Nun endlich ist auch die seriöse Erforschung des sexuellen Missbrauchs in Gang gekommen.
„Die wissenschaftliche Auswertung der telefonischen Meldungen und Briefe von Betroffenen bestätigt, dass Mädchen und Jungen, junge Frauen und Männer häufig in Institutionen sexuell ausgebeutet wurden. Die weiblichen Betroffenen hatten in deutlich mehr als der Hälfte der Fälle sexualisierter Gewalt in der Familie (70, 8 Prozent), in nahezu jedem sechsten Fall in Institutionen (17, 2 Prozent), in jedem zehnten Fall im sozialen Umfeld der Familie und in einigen wenigen Fällen durch Fremdtäter erlebt. Männliche Betroffene wurden weniger häufig als Mädchen (32, 6 Prozent), jedoch häufiger in Vereinen, auf Ferienfreizeiten, in Pfarrgemeinden oder anderen Institutionen sexuell ausgebeutet“ (M. Gründer/M. Stemmer-Lück, Sexueller Missbrauch in Familie und Institutionen, Stuttgart 2013, Einführung).
Die Relationen
Die polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet für das eine Jahr 2019 15 936 Fälle von sexuellem Missbrauch – so der Bericht des „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs“ der Bundesregierung. Soweit also die Lagebeschreibung.
Dem entsprechen in den Jahren 1946 bis 2014 im Bereich der katholischen Kirche in Deutschland 3677 Opfer sexueller Gewalt. Davon waren 62, 8 Prozent männlich, 34, 9 Prozent weibliche Kinder/Jugendliche. Das bedeutet in 68 Jahren je etwa 54 Fälle pro Jahr. Man sollte bei weiteren Erörterungen dieses Zahlenverhältnis im Auge behalten. Davon abgesehen ist natürlich jeder dieser Fälle einer zuviel. Darum ist die Frage nicht zu unterdrücken, wie es denn in diesem geschützten Raum zu diesen Untaten kommen konnte.
Da gilt es zunächst die Situation der Moraltheologie ins Auge zu fassen, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mancherlei Umwälzungen erlebte. Wie betrachtete, beurteilte man Missbrauch, Homosexualität und so weiter in diesen Jahren? In der Tat hat sich hier ein bemerkenswerter Wandel vollzogen. Man war der trockenen „Begriffsakrobatik“ der neuscholastischen Schule müde und suchte nach neuen Wegen. Hatte man bisher das Hauptaugenmerk eher auf objektive Tatbestände gerichtet, so begann man nun mit gutem Grund auch den einzelnen Menschen, seine Lebenssituation und seine „Gewissensentscheidungen“ im Lichte der Psychologie, der Tiefenpsychologie, der Psychoanalyse zu betrachten. Was indes zur Ausleuchtung der Umstände sittlichen Handelns hilfreich sein konnte, wurde nunmehr oft vergröbert zur Rechtfertigung von sittlichem Fehlverhalten missbraucht.
Abirrungen der Sittenlehre
Nun sprach man von „Situationsethik“, von „Konsequenzialismus“ und so weiter und nahm damit Abschied von allgemein gültigen, in der menschlichen Natur begründeten sittlichen Normen. Folge davon war der vor allem in den Vereinigten Staaten zu beobachtende streckenweise Zusammenbruch der Moraltheologie. Zu spät hat Johannes Paul II. in „Veritatis splendor“ dazu Stellung genommen.
In diesen Jahren kam es nicht selten zu schwerwiegenden Abirrungen von der Sittenlehre, wie sie die Heilige Schrift und die apostolische Tradition enthielten. In diesen Jahren – wir leben in der Phase des Kalten Krieges zwischen der westlichen Welt und dem Sowjet-Imperium – hatte sich die katholische Kirche unter Papst Pius XII. als Bollwerk gegen den Kommunismus erwiesen und war so zur Zielscheibe kommunistischer Angriffe geworden: Bella Dodd, Topfunktionärin in Amerikas Kommunistischer Partei und schließlich von Bischöfe Fulton Sheen zum Glauben zurückgeführt, hat in ihrem Lebensbericht „School of Darkness“ berichtet, wie sie eine gezielte Infiltration von 1 100 kommunistischen Agenten in die Seminarien und Institutionen der katholischen Kirche Amerikas durchgeführt hat. „In the 1930? we put eleven hundred men into the priesthood in order to destroy the Church from within… Right now they are in the highest places in the Church“. Es ist wohl nicht verfehlt, das Entstehen des bekannten Skandals mit dieser subversiven Aktion in Verbindung zu bringen.
Skandale der Welt
Dass sich die Sowjetunion damit auf die Vereinigten Staaten beschränkt habe, ist kaum anzunehmen. So also mag es zum Ausbruch des Skandals in bisher nicht gekanntem Ausmaß gekommen sein. Nun aber ist die Frage zu stellen, warum das Problem erst in den zwei bis drei letzten Jahrzehnten in seinen wahren Dimensionen erkannt und aufgegriffen wurde. Um darauf zu antworten, blicken wir zum Beispiel auf die Anfänge des industriellen Zeitalters zurück. Mit welch unbekümmerter Selbstverständlichkeit wurde ein gutes Jahrhundert lang mit Industrieabfällen und Chemikalien umgegangen! Mit welcher Ahnungslosigkeit wurden im Bergbau Wohngebiete unterhöhlt, ohne dass man an die heute erlebten Häusereinstürze gedacht hätte!
Erst die fünf- bis zehntausend Kinder, die seit etwa 1960 mit schwersten Missbildungen zur Welt kamen, weil ihren Müttern „Contergan“-Tabletten verordnet worden waren, und schließlich der Chemie-Skandal von Seveso des Jahres 1976 zeigten einer fortschrittstrunkenen Gesellschaft endlich ihre Grenzen. Es ist offenbar so, dass eine Gefahr, ein Übel, erst dann wahrgenommen wird, wenn es eine entsprechende Dimension erreicht hat und seine bösen Folgen offenkundig werden.
Eben dies aber geschah auch mit dem sexuellen Missbrauch Minderjähriger, Abhängiger, der seit der Frühzeit der Menschheit vorhanden war, ehe er als gesellschaftliches Phänomen wahrgenommen wurde.
Anachronismus
Ungeachtet dieser Einsicht begehen allzu viele, die sich darüber zum Wort melden, den klassischen Anfängerfehler, Personen, Vorgänge und so weiter von „damals“ nach den Maßstäben von heute zu beurteilen. Das aber ist, wie wenn man dem 1910 verstorbenen Robert Koch vorwerfen wollte, dass er seine Patienten nicht mit Penicillin behandelt habe. Einen solchen recht häufig begangenen Fehler nennt man Anachronismus. Studenten der Geschichte werden schon im Proseminar davor gewarnt.
Und nun eine letzte Frage: Könnte es gar sein, dass eine Gesellschaft, die sich durch die Sittenlehre der katholischen Kirche in Frage gestellt sieht, versuche, die unbequeme Mahnerin durch den Fingerzeig auf das Versagen in ihren eigenen Reihen zum Schweigen zu bringen? Sei dem wie es sei: An alle Gläubigen, die Bischöfe und Priester zumal, geht von all dem ein ernster Ruf aus – zu Umkehr und Erneuerung im Geist des Evangeliums. Ihre Kritiker hingegen sollten sich an das Wort vom Splitter und dem Balken (Matthäus 7, 3–5) erinnern.
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