"Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus!“ Ob Johannes Paul II. bei seinem Appell zu Beginn seines Pontifikates am 22. Oktober 1978 auch an das Brandenburger Tor dachte?
Für Karol Wojtyla, dessen beherztes Eintreten für den Bau einer Kirche im neu errichteten Krakauer Stadtteil Nowa Huta gegen die Bestrebungen der Behörden, eine religionsfreie Stadt zu errichten, etliche Jahre vor den Ereignissen in der Danziger Lenin-Werft dem kommunistischen Kartenhaus erste Risse zugefügt hatte, besaß das Brandenburger Tor eine besondere symbolische Bedeutung.
"Weil sie Angst vor der Freiheit hatten,
pervertierten die Ideologen ein Tor zur Mauer."
Als Sinnbild für die Teilung Deutschlands beziehungsweise Europas wurde das Brandenburger Tor auch vom Bundespräsidenten und ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin Richard von Weizsäcker empfunden, der bei seinem Staatsbesuch in Moskau im Juli 1987 den Spruch prägte: „Die deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor geschlossen ist“ sowie vom amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, der am 12. Juni 1987 in Berlin eine eindringliche Aufforderung an Michail Gorbatschow gerichtet hatte: „Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor. Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder.“
Deshalb ist es verständlich, dass für Johannes Paul II. der Gang durch das Brandenburger Tor vor 25 Jahren am 23. Juni 1996 ein ganz besonderes Ereignis war. Ein Zeitzeuge, der emeritierte Berliner Weihbischof Wolfgang Weider, erinnert sich im Gespräch mit der „Tagespost“ an die Worte Johannes Pauls: „Der Papst sagte zu Kardinal Sterzinsky – und er hat es mir weiter erzählt: ,Jetzt ist für mich der Zweite Weltkrieg beendet. Nun ist es für mich abgeschlossen‘.“
Der Papst, der zwei Diktaturen erlebte
Pointiert bekräftigt dies Historiker Michael Feldkamp. Damals – so führt er gegenüber dieser Zeitung aus – habe er an das Wort „Gott sah, dass es gut war“ aus dem Schöpfungsbericht im ersten Kapitel des Buches Genesis gedacht: „Ich habe mich immer gefragt: Was mag dieser Papst in diesem Augenblick gedacht haben, war es doch vor allem sein Verdienst, dass die Berliner Mauer gefallen war. Ja, Papst Johannes Paul II. konnte sich persönlich davon überzeugen, dass ,sein Werk‘ gut geworden war.“ Der Pontifex selbst gab all diesen Gedanken in seiner denkwürdigen Ansprache Ausdruck: „Das Brandenburger Tor wurde von zwei deutschen Diktaturen besetzt. Den nationalsozialistischen Gewaltherrschern diente es als imposante Kulisse für Paraden und Fackelzüge, und von den kommunistischen Tyrannen wurde dieses Tor mitten in dieser Stadt zugemauert. Weil sie Angst vor der Freiheit hatten, pervertierten die Ideologen ein Tor zur Mauer. Gerade an dieser Stelle Berlins, die zugleich zur Nahtstelle Europas wurde, zur unnatürlichen Schnittstelle zwischen Ost und West, gerade an dieser Stelle offenbarte sich für alle Welt sichtbar die grausame Fratze des Kommunismus, dem die menschlichen Sehnsüchte nach Freiheit und Frieden suspekt sind. Vor allem aber fürchtet er die Freiheit des Geistes. Auch sie wollten die braunen und roten Diktatoren zumauern.“
Weihbischof Weider, der in Berlin-Karlshorst aufwuchs, und den größten Teil seines Lebens im östlichen Teil Berlins verbracht hat, zieht eine Parallele zum Leben Karol Wojtylas: „Diese zwei Diktaturen hat er persönlich erlebt, die erste schlimmer als die zweite, während der er Bischof wurde. Dass ein polnischer Papst – einer von den überfallenen und unterdrückten armen Polen – nach dem furchtbaren Krieg nun am Beginn und im Zentrum des teuflischen Terrors der Nationalsozialisten einmal wie ein Sieger durch das Brandenburger Tor gehen würde, hat er als etwas ganz Besonderes empfunden, als ein Ereignis von historischer Dimension.“
Am Tag des Papstbesuchs fand der "Christopher Street - Day" statt
In Erinnerung geblieben sind ebenfalls die beschämenden Szenen eines protestierenden Mobs. Dazu Michael Feldkamp: „Wir haben alle lebhaft in Erinnerung, wie groß die Verehrung für Papst Johannes Paul II. war, als er starb. ,Santo subito‘ war in der ganzen Welt zu hören. Als Papst Johannes Paul II. 1996 in Berlin war, war die Stimmung eine gänzlich andere.
Wie kaum ein zweiter war der Papst weltweit Anfeindungen ausgesetzt gewesen. Mir ist einmal mehr aufgefallen, wie schnell wir Menschen auch vergessen können.“ Aufschlussreich ist jedenfalls, wie der Papst selbst solche „Aktionen“ auffasste. Weihbischof Weider erinnert sich: „Johannes Paul II. erlebte vom Auto aus fassungslos die lauthals schreienden und protestierenden Menschen am Straßenrand als ausufernden Teil des ,Christopher Street-Day‘, der am gleichen Tag ebenfalls in Berlin stattfand und sich auf seine erschreckende Weise bemerkbar machen wollte. Und dann sagte der Papst im PKW zu Kardinal Sterzinsky: ,Das ist ja apokalyptisch‘. So hat es mir der Berliner Erzbischof damals persönlich selbst erzählt.“
"Es gibt keine Freiheit ohne Wahrheit"
Die Freiheit stand im Mittelpunkt der Ansprache Johannes Pauls an jenem 23. Juni 1996: „Freiheit bedeutet nicht das Recht zur Beliebigkeit. Freiheit ist kein Freibrief! Wer aus der Freiheit einen Freibrief macht, hat der Freiheit bereits den Todesstoß versetzt. Der freie Mensch ist vielmehr der Wahrheit verpflichtet. Der Mensch verdankt sich nicht sich selbst, sondern ist Geschöpf Gottes; er ist nicht Herr über sein Leben und über das der anderen. Es gibt keine Freiheit ohne Wahrheit. Die Idee der Freiheit kann nur da in Lebenswirklichkeit umgesetzt werden, wo Menschen gemeinsam von ihr überzeugt und durchdrungen sind – in dem Wissen um die Einmaligkeit und Würde des Menschen und um seine Verantwortung vor Gott und den Menschen. Ihnen allen, die Sie mich jetzt hören, verkündige ich: Die Fülle und die Vollkommenheit dieser Freiheit hat einen Namen: Jesus Christus. Er ist der, der über sich bezeugt hat: Ich bin die Tür. In ihm ist den Menschen der Zugang geöffnet zur Fülle der Freiheit und des Lebens. Er ist der, der den Menschen wirklich frei macht, indem er die Finsternis aus dem menschlichen Herzen vertreibt und die Wahrheit aufdeckt.“
Die Mauer: Trennung zweier Weltanschauungen
Am 23. Juni hatte der Pontifex im Berliner Olympiastadion Bernhard Lichtenberg und Karl Leisner seliggesprochen. „Den Berliner Katholiken schenkte der Papst ihren ersten eigenen Märtyrer zur Verehrung“, kommentiert dazu Historiker Feldkamp in Bezug auf Lichtenberg. Weider unterstreicht den Bezug zur Nazizeit durch verschiedene Seligsprechungen, die der Papst in Deutschland vornahm – auch die von Edith Stein und Pater Rupert Mayer bereits 1987: „Es war ihm ein Anliegen, diese Zeugen des Glaubens in ihrer Würde zu bestätigen und ihr mutiges Aufbegehren gegen das Unrecht des Nationalsozialismus und damit gegen alles Unrecht in der Welt anzuerkennen. Dies bedeutete aber auch ein eindeutiges Bekenntnis, dass endlich mit seinen Besuchen in Deutschland und zwar gerade in Berlin eine gerechte Ordnung in Europa wieder hergestellt war.“
Bei der Seligsprechung der beiden Opfer des Nationalsozialismus sprach der Papst vom Zusammenhang zwischen Würde und Wahrheit: „Bernhard Lichtenberg erkannte klar, dass dort, wo die Wahrheit Gottes nicht mehr geachtet wird, auch die Würde des Menschen verletzt wird. Wo die Lüge herrscht, regiert auch immer das falsche und böse Handeln.“ Freiheit, Würde, Wahrheit – Johannes Paul II. stellte eindrücklich einen Zusammenhang zwischen ihnen bei einem denkwürdigen Besuch in der Stadt her, durch die sich einst die Trennung zweier Weltanschauungen zog.
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