Als ich bei der Frühjahrsvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz 2010 in Freiburg zu Fragen des Missbrauchs referierte, traf ich auf eine bis zum Äußersten angespannte Atmosphäre. Bischöfe waren verzweifelt, empört, traurig, in sich gekehrt, geschäftig, lethargisch, man war ratlos und aufgewühlt. Wie auf der Himmelfahrt Mariens von Tizian in I Frari in Venedig die Apostel unten ganz unterschiedlich reagieren, traurig, ergriffen, schicksalsergeben oder begeistert der Madonna hinterherstrebend, so unruhig erschien mir diese Gruppe von Bischöfen, nur der Ruhepol der schwebenden Muttergottes fehlte.
Traumatische Folgen für die Bischöfe
Die Ereignisse Anfang 2010 hatten nach meinem Eindruck traumatische Folgen speziell für die Bischöfe. Drei Wochen lang hatte sich der DBK-Vorsitzende Erzbischof Zollitsch nicht zur Sache geäußert und alle waren erleichtert, mit Bischof Ackermann nun jemanden zu haben, der sich auch in schwierigen Talk-Shows bewegte wie ein Fisch im Wasser. Man starrte auf die Medien, das Bild der Kirche dort war katastrophal, fast alles war man bereit zu tun, um in der Öffentlichkeit besser auszusehen.
Doch damit begann eine verhängnisvolle Entwicklung weg von seriöser Wissenschaft. Gegen den ausdrücklichen Rat der führenden Experten engagierte die Bischofskonferenz Professor Christian Pfeiffer, und als das scheiterte, bestellte man ein sehr unterschiedlich qualifiziertes Konsortium, das die umstrittene MHG-Studie erstellte, der der führende deutsche Forensiker Professor Hans-Ludwig Kröber bescheinigte, sie verstehe sich "als Zuarbeit zur kirchenpolitischen Debatte der großen Themen Zölibat, Homosexualität, Sexualmoral; sie entsagte dafür in mehreren Teilprojekten einem wissenschaftlichen Vorgehen".
Noch schlimmer wurde es, als man Aufarbeitungskommissionen für alle Diözesen beschloss, in denen immer mindestens zwei Opfer sitzen müssen. Der Jesuit und ehemalige Leiter des Berliner Canisius-Kollegs Klaus Mertes hat mit Recht darauf hingewiesen, dass es der gesamten Rechtstradition widerspricht, dass hier Opfer als Richter auftreten. Der Platz der Opfer wäre die Nebenklage. Am Ende hat jetzt die Bischofskonferenz eine Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) eingerichtet, der kein einziges Mitglied mit aussagepsychologischer Kompetenz angehört, so dass niemand wissenschaftlich überzeugend feststellen kann, ob eine bestrittene Beschuldigung stimmt. Wenn es dabei bleibt, müsste man jungen Männern in Deutschland dringend davon abraten, Diözesanpriester zu werden, denn das ist der einzige Beruf, in dem man haltlosen Beschuldigungen im Leben und sogar nach dem Tod hilflos ausgeliefert ist.
"Was die Aufarbeitung betrifft, erscheint es tatsächlich merkwürdig,
dass in den vergangenen zehn Jahren noch kein einziger
Verantwortlicher öffentlich erklärt hat, dass er Fehler
gemacht habe und deswegen zurücktrete"
Was die Aufarbeitung betrifft, erscheint es tatsächlich merkwürdig, dass in den vergangenen zehn Jahren noch kein einziger Verantwortlicher öffentlich erklärt hat, dass er Fehler gemacht habe und deswegen zurücktrete. Genau das aber wünschen sich die Betroffenen: Dass Menschen aus eigenem Antrieb um Verzeihung für Fehlleistungen bitten und nicht erst unter dem Druck von "unabhängigen Gutachten" das Handtuch werfen. Ein solcher Akt könnte auch therapeutisch für Opfer von Missbrauch wirklich heilsam sein, zumal Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch katholische Priester schlimmer ist als jeder andere Missbrauch: Der junge Mensch verliert oft nicht nur das Vertrauen in Menschen, sondern auch das Vertrauen in Gott.
Doch eine solche befreiende Aufarbeitung ist nicht in Sicht. Im Gegensatz zur berechtigten Frage der Journalistin Christiane Florin, ob nicht irgendein gegenwärtiger Bischof mal für sich Konsequenzen gezogen oder sogar an Rücktritt gedacht habe, läuft derzeit die Aktion Bischofsgruft: Statt selber für sich Konsequenzen zu ziehen, sind einige Bistumsleitungen auf den Gedanken verfallen, die verblichenen Vorgänger zur Rechenschaft zu ziehen. Das erinnert an die unappetitliche Leichensynode, bei der im Jahre 897 Papst Stephan VI. seinen Vorgänger Papst Formosus exhumieren, die Leiche verurteilen, bestrafen und in den Tiber werfen ließ. Es ist aber eigentlich ziemlich unwahrscheinlich, dass alle heutigen Bischöfe tapfere Aufklärer und alle früheren charakterlose Finsterlinge gewesen sein sollen.
Deswegen müsste man bei den nun zu erwarteten Gutachten und Aufarbeitungsbemühungen vor allem den historischen Aspekt hinreichend beachten, ohne den es keine Gerechtigkeit geben kann. Thomas Sternberg, der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, hat das zu Recht angemahnt. In Regensburg ist das bei den Domspatzen vorbildlich geschehen, auch das Bistum Münster geht diesen Weg.
Die Wissenschaft ließ die Bischöfe komplett im Stich
Unter dieser historischen Perspektive kann man einem kirchlichen Verantwortungsträger noch bis etwa zum Jahr 1990 in der Regel keinen Vorwurf machen, wenn er einen Missbrauchstäter versetzt hat, ohne vor Ort über das Geschehene zu informieren. Ein solches Verhalten, das heute absolut verantwortungslos wäre, war damals fast unvermeidlich.
Im Gegensatz zu heute ließ nämlich die Wissenschaft damals die Bischöfe komplett im Stich. 1970 hatte der führende deutsche Sexualwissenschaftler Eberhard Schorsch bei einer Anhörung im Deutschen Bundestag erklärt, gewaltfreie Sexualkontakte zwischen Erwachsenen und Kinder schädigten gesunde Kinder nicht. Das war noch bis Ende der 80er Jahre herrschende Lehre! In dem 1989 im renommierten Deutschen Ärzteverlag erschienenen internationalen Standardwerk "Klinische Sexologie" hieß es, "dass die Untersuchungen und Verhöre, die solchen Handlungen folgen, mehr Schaden anrichten als die Handlung selbst... Wir müssen versuchen anzustreben, dass die Reaktionen und die Sanktionen der Gesellschaft von Sachlichkeit und Augenmaß geprägt werden und in einem angemessenen Verhältnis zur Gefährlichkeit der Handlung, die meist geringfügig ist, stehen..., dass mit größerer Verbreitung von Information über kindliche Sexualität und größerer Würdigung der ungünstigen Wirkung der Maßnahmen traditioneller Kriminalgerichtsbarkeit auf Opfer und Straftäter sich mehr Fälle außerhalb des Justizsystems regeln ließen. Viele Fälle könnten innerhalb der beteiligten Familien geregelt werden, mit oder ohne Hilfe von Sozialarbeitern und Ärzten... In manchen Ländern sind in den letzten Jahren Organisationen entstanden, die sich für ,die sexuellen Rechte der Kinder und für mehr Verständnis für Pädophilie einsetzen". Das sind unsägliche Verirrungen der "sexuellen Revolution", aber sie galten damals als Spitze des Fortschritts, dem die katholische Kirche in der öffentlichen Wahrnehmung bremsend hinterhertrottete.
Dennoch, wird eingewandt, war Kindesmissbrauch damals strafbar. Das stimmt. Doch da man schon bald mit der "Entkriminalisierung der Pädophilie" rechnete, lief es so, wie kurz vor der endlich erfolgten weitgehenden Aufhebung des 175 im Jahre 1973, der homosexuelle Beziehungen unter Strafe stellte: Die Norm wurde kaum mehr angewandt. Für ein staatliches Verfahren ergab sich außerdem die Schwierigkeit, dass die Opfer in der Regel aus "gut katholischen" Familien stammten und die Eltern oft verhinderten, dass ein Verfahren eingeleitet werden konnte, weil sie die Kirche schützen wollten. Es gibt erschreckende Berichte darüber, dass Eltern ihren Kindern einfach nicht glaubten oder sie sogar wegen solcher Anschuldigungen züchtigten.
Routinemäßig wurden sie zu Psychotherapeuten geschickt
In dieser Situation blieb einem Bischof nicht viel anderes übrig, als so zu reagieren, wie man das seit Jahrhunderten gewohnt war: dem Sünder war zu verzeihen, wenn er Reue und Vorsatz zeigte, man glaubte ihm seine händeringenden Beteuerungen und gab ihm eine neue Chance, indem man ihn versetzte. Routinemäßig wurden die Täter oft zu Psychotherapeuten geschickt, die aber zumeist wenig Erfahrung mit dieser Klientel hatten und naive "Persilscheine" ausstellten. Aus heutiger Sicht völlig unprofessionell. Natürlich informierte man die neue Gemeinde nicht über die sexuelle Verfehlung, da dann ein Neuanfang unmöglich gewesen wäre. Nirgends konnte der Bischof erfahren, dass vor allem pädokriminelles Verhalten ein hohes Rückfallrisiko beinhaltet, nirgends konnte er etwas über posttraumatische Belastungsstörungen bei den Kindern und Jugendlichen lesen. Allenfalls konnte er sich denken, wie furchtbar ein solches Erlebnis für die Opfer sein musste.
Aber da war dann die in weiten gesellschaftlichen Kreisen herrschende Sprachlosigkeit über Sexualität und vor allem die Scheu der Eltern und Kinder, "das Unsägliche" nochmals zu thematisieren. Dennoch wird es Fälle gegeben haben, wo die Dinge anders lagen, wo das Opfer reden wollte, aber schroff abgewiesen wurde, wo man zynisch nur auf den Ruf der Kirche achtete, wo trotz bewiesener wiederholter Rückfälle keine Alarmsignale ansprangen. Das muss Konsequenzen haben. Aber ein simples Überstülpen heutiger Erkenntnisse auf die damalige Zeit wäre ganz ungerecht.
Dann gibt es die Periode von 1990 bis zu den ersten Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz 2002. In dieser Zeit hätte ein Bischof, der die Tagespresse las, von den schlimmen traumatischen Konsequenzen von Kindesmissbrauch erfahren können, auch von der Rückfallgefahr et cetera. Ab 2002 wäre dann ein Verhalten, das vor 1990 nicht zu beanstanden gewesen wäre, unverantwortlich.
Wann ein Rücktritt unvermeidlich wäre
Ein Rücktritt wäre aus meiner Sicht unvermeidlich, wenn ein kirchlich Verantwortlicher entgegen besserem Wissen und den damals geltenden Leitlinien einen bekannten Täter versetzt hat, ohne jemanden in der Umgebung voll aufzuklären, und der Täter deswegen erneut ein Opfer missbraucht hat. Demgegenüber sind rein formale juristische Versäumnisse, die nicht erneut Unheil angerichtet haben, aus meiner Sicht kein Grund für einen Rücktritt. Anders steht es um menschlich unangemessenes oder sogar traumatisierendes Fehlverhalten. Doch ob das vorgelegen hat, dazu bedarf es nicht nur einer vereinzelten Aussage, sondern klarer übereinstimmender Belege.
Bei alldem geht es nicht um "konservativ" oder "progressiv". Manche Verantwortungsträger sind schlicht überfordert vom beängstigenden Ausmaß der öffentlichen Debatten. Sie wollten Priester und Bischof werden, um den Menschen zu dienen, den Glauben zu verkünden und ihn in den Sakramenten Gestalt werden zu lassen. Und jetzt sehen sie sich mit Problemen konfrontiert, für deren Lösung sie ganz andere Fähigkeiten und Kenntnisse benötigten. Sich da nicht dem lautesten selbsternannten Experten auszuliefern, sondern wieder mehr auf ruhige, seriöse Wissenschaft zu setzen, das wäre ein hoffnungsvoller Neuanfang. Bislang scheint das vor allem in Regensburg und Ettal gelungen zu sein.
Der Autor ist Psychiater und Psychotherapeut. Bis 2019 leitete er das Alexianer-Krankenhaus in Köln.
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