Seid gut und man wird Euch glauben!“ Dieser markante, kurze Satz des heiligen Vinzenz von Paul, den er oft den von ihm gegründeten Orden der Barmherzigen Schwestern gepredigt hat, steht im Eingang des Paderborner Vinzenzkrankenhauses an die Wand verschrieben. Wer dort Besuche macht, liest ihn und nimmt ihn im Unterbewusstsein mit zu den Kranken. Sie sind ja nicht so sehr krank, als vielmehr arm: gesundheitlich bestens versorgt, aber ganz offensichtlich am Rande einer auf Leistung und Erfolg getrimmten und ausgerichteten Gesellschaft.
„Ich war krank, und Ihr habt mich besucht!“ sagt der Herr im Matthäus-Evangelium mit unverhohlenem Anspruch und offensiver Zumutung. Und eben: „Seid gut und man wird Euch glauben!“ Der Satz scheint ganz einfach, aber birgt erheblichen Sprengsatz, ähnlich wie die Gerichtsrede Jesu im Evangelium, denn: Man kann den Satz doppelt verstehen. Entweder erstens und einfacher: „Weil Ihr gut seid, wird man Euch glauben, dass es Gott gibt!“ Dann heißt es: Glauben wird man Euch die Botschaft von Gott und seiner Liebe nur, wenn Ihr auch so handelt, wie er ist. Aber das heißt noch längst nicht – und das ist die zweite und schwierigere Möglichkeit des Verstehens: „Wenn Ihr gut seid, dann wird man Euch glauben!“ Und zu ergänzen wäre: Und dann wird man an Gott glauben!
Wenn es so einfach nur wäre… Dann wäre Japan längst christlich und Indien mit den Schwestern von Mutter Teresa erst recht. Aber so ist es eben nicht: Gutheit bewirkt noch keinen Glauben an irgendeinen guten Gott. Wohl immerhin ist der Glaube an einen angeblich guten Gott ohne Gutheit überflüssig wie der berühmte Kropf.
Starker Bezug zu Lateinamerika
Um dies und ähnliche Gedanken kreist das erste offizielle Dokument von Papst Leo XIV. „Dilexi te“ („Ich habe Dich geliebt“), benannt nach den Anfangsworten der Apostolischen Exhortation, einem Zitat aus der Geheimen Offenbarung des Johannes aus dem Neuen Testament. Es ist ein geistlicher, ein frommer, ein zu Herzen gehender Text, wesentlich noch vom Vorgänger des jetzigen Papstes stammend, von Papst Franziskus also, augenscheinlich zur Veröffentlichung vorgesehen und liegengelassen vor dem Tod, jetzt von Leo XIV. ergänzt und veröffentlicht. Es ist ein Text im Anschluss an die vierte und letzte Enzyklika „Dilexit nos“ von Papst Franziskus vom Oktober 2024 zur Herz-Jesu-Verehrung. Es ist ein Text mit starken lateinamerikanischen Bezügen – „mehr Gringo als Chicagoboys“, schrieb ein gewitzter Kommentator – und ausgerichtet auf die Probleme von Entwicklungsländern unterschiedlicher Art, die aber gleicherweise in Lateinamerika wie in Afrika und kleinen Teilen Asiens leiden unter einem in den USA weitverbreiteten, fast ungezügelten Kapitalismus, einer „Meritokratie“ (Nr. 14), „nach der scheinbar nur diejenigen Verdienste haben, die im Leben erfolgreich gewesen sind.“
Dagegen steht die „Sorge um die ganzheitliche Entwicklung der am stärksten vernachlässigten Mitglieder der Gesellschaft“ (Nr. 23), und zwar gerade dort, „wo der Staat eine Lücke lässt“ (Nr. 71), also im Feld der Zivilgesellschaft. Daher wiederholt auch „Dilexi te“ etwa in Nr. 92 die von Papst Franziskus öfter gehörte Warnung vor einer „Diktatur einer Wirtschaft, die tötet“: Gemeint ist ein weithin gültiges „privatrechtliches Erfolgsmodell“ (Nr. 95), das zu immer größerer Ungleichheit der Lebensverhältnisse und zu weiterer grassierender Armut führt, als wenn „der freie Markt von selbst zur Lösung des Problems der Armut führen werde.“ (Nr. 114)
Wir müssen den Kapitalismus auf Teufel komm raus verbessern
In der Tat: Ein Blick auf die meisten lateinamerikanischen und afrikanischen Staaten zeigt himmelschreiende Armut in skandalösem Kontrast zu überbordendem Reichtum. Aber es stimmt eben auch: Welthandel und Kapitalismus führten zur effektiven Verringerung der Armut weltweit. Es ist noch Luft nach oben, aber am Grundmodell einer Sozialen Marktwirtschaft, eines sozialen und gerechten Kapitalismus, in den USA auch oft „Inclusive Capitalism“ genannt, ist nicht zu zweifeln.
Niemand, auch nicht Papst Franziskus oder jetzt „Dilexi te“, auch nicht die Theologie der Befreiung, schon gar nicht der real existierende Sozialismus, haben bessere Methoden zur wirksamen Sorge für die Armen und zur Verringerung der weltweiten Armut hervorgebracht. Es beißt die Maus keinen Faden ab: Wir müssen den Kapitalismus auf Teufel komm raus verbessern, um Gottes Sorge um die Würde eines jeden Menschen erst zu nehmen. Der Staat muss Gesetze zur Sicherung sozialer Gerechtigkeit durchsetzen; die Kirche ermahnt dazu und hat zugleich noch mehr im Blick: Gerechtigkeit der Liebe. Und das heißt: Es ist „die schlimmste Diskriminierung, unter der die Armen leiden, der Mangel an geistlicher Zuwendung. Die vorrangige Option für die Armen muss sich hauptsächlich in einer außerordentlichen und vorrangigen religiösen Zuwendung zeigen.“ (Nr. 114)
Im Jahre 847 erbaute Papst Leo IV., ein streitbarer Vorgänger des neuen Papstes Leo XIV., gegen die ständig in Rom und Latium brandschatzenden Sarazenen die Leoninische Mauer, die heute noch sichtbar ist: eine gewaltige Brandmauer um den Petersdom mit dem Grab des heiligen Petrus und mehr oder minder das Gebiet des heutigen Vatikanstaates abgrenzend. Eine Absicherung gegen feindliche Überfälle und ein Schutz für den nach Jerusalem und der Grabeskirche heiligsten Ort der Christenheit, das Grab des Apostelfürsten Petrus, dessen Nachfolger als Stellvertreter Christi auf Erden der jeweilige Papst in Rom ist.
Fast ist man versucht
Fast ist man versucht, an das am Anfang der Bibel geschilderte Paradies zu denken. Sein Name leitet sich aus der altpersischen Sprache her und wanderte im 7. Jahrhundert vor Christus als Lehnwort „paradeisos“ ins Griechische: „pairi“ heißt herum und „daeza“ heißt Ziegel. Gemeint ist eine ummauerte oder eingezäunte Fläche, eine Oase mit Wasser zur Sicherung des Überlebens; verwandt ist das hebräische Wort „pardes“ in späteren biblischen Texten für Baumgarten oder Oase. Erinnert sei aber auch an den vermutlichen Kern des Wortes Ethik, vom griechischen „ethos“, im Sanskrit-Wort „eto“ für eine Art Schafpferch: Auch hier geht es um die Sicherung von etwas sehr Kostbarem. Die uralte Idee der Wüstenvölker ist: Wenn es in einer todbringenden Wüste lebensspendendes Wasser und eine Oase gibt, dann müssen Wasser und Oase künstlich gegen die tödliche Versandung geschützt werden. Wie? Mit einer Mauer aus gebrannten Ziegeln! Nur durch solch eine Art Brandmauer lässt sich Versandung und Verödung, verheerender Flächenbrand todbringender Vernichtung, ja eigentlich der frühe Tod durch Verdursten verhindern.
Wer aber schützt vor dem Verdursten der Seele, der inneren Verzweiflung, von der der dänische Philosoph Sören Kierkegaard im 19. Jahrhundert als der schleichenden „Krankheit zum Tode“ schrieb? Vor dieser seelischen tödlichen Krankheit schützt allein das Wasser des Lebens und der Liebe: von sterblichen Menschen, freilich, mehr noch und nachhaltiger vom unsterblichen ewigen Gott. Und wie wird dieses Wasser der Liebe geschützt vor der alltäglichen und anödenden Versandung geistiger Anspruchslosigkeit und zunehmender bequemer Suhlung bei den Schweinen, fernab vom Vaterhaus der verlorenen Liebe? Es braucht, so das Christentum und seine Bibel, eine geistige Mauer aus lebendiger Erinnerung an das Vaterhaus, die zum Aufbruch weg von den Schweinen inspiriert, eine Mauer aus Gebet und Nächstenliebe und tätiger Gottesverehrung; eine Mauer aus Gewissenserforschung und Tröstung durch die Sakramente der Kirche.
Brandmauern gegen die Menschenverachtung
Es braucht die Mühe einer „zweiten Natur“ des Menschen, so sagen die frühen Kirchenväter und auch der große Vorgänger des jetzigen Papstes, Leo der Große, um die Mängelnatur des Menschen als nackter und nichtsnutziger Menschenaffe, genauer gesagt: als borstiger Bonobo-Schimpanse, zu ergänzen und so den entscheidenden Schritt vom bloßen langen Überleben zum wahrhaft guten Leben zu ermöglichen. „Christ, erkenne deine Würde! Du bist der göttlichen Natur teilhaftig geworden, kehre nicht zu der alten Erbärmlichkeit zurück und lebe nicht unter deiner Würde!“, so predigt Papst Leo der Große an einem Weihnachtsfest.
Wer den Menschen in seiner Würde erhalten und zur Entfaltung seiner liebenden Seele führen will, der muss ihn schützen und bewahren und den Quell des Lebens und der Liebe in seiner Seele frisch und lebendig erhalten. Dazu braucht es eine doppelte Mauer: eine erste und zunächst noch minimale Mauer der staatlichen sozialen Gerechtigkeit und des Gesetzes gegen die Verletzung bürgerlicher Menschenrechte, und eine zweite, ungleich anspruchsvollere sakramentale Mauer der Liebe und der Barmherzigkeit gegen die Verletzung der menschlichen Seele. Sakramente wollen ja eine himmlische Mauer gegen die Lieblosigkeit durch das von Gott gestiftete Handeln der Kirche sein. Der Samariter hilft dem Menschen im Straßengraben tatsächlich unabhängig von jeder Volkszugehörigkeit. Aber das heißt natürlich nicht, dass die äußere, minimale staatliche Mauer der Menschenrechte nicht anders konstruiert sein kann als die innere Mauer der göttlichen und menschlichen Liebe: Hier gilt das Äußerste an Mühe und an Zumutung!
Davon handelt „Dilexi te“ im Glauben an Gottes unendliche Liebe zu jedem Menschen. Denn: Wer an Gottes Natur teilhat, gibt alles und weit mehr als irgendein Staat! Und zieht die leoninischen Mauern als Brandmauern gegen jede Menschenverachtung so weit wie möglich!
Der Autor ist Lehrstuhlinhaber an der Theologischen Fakultät Paderborn.
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