Die Enzyklika "Humanae vitae" ist auf Fragen rund um die Sexualität, die Liebe und das Leben eingegangen, die in einem engen Zusammenhang miteinander stehen und Menschen zu allen Zeiten betreffen. Aus diesem Grund bleibt ihre Botschaft heute gültig und aktuell. Papst Benedikt XVI. drückte das so aus: "Was gestern wahr gewesen ist, bleibt auch heute wahr. Die Wahrheit, die in der Enzyklika Humanae vitae zum Ausdruck gebracht wird, ändert sich nicht. Im Gegenteil, gerade im Licht der neuen wissenschaftlichen Errungenschaften wird ihre Lehre immer aktueller und fordert dazu heraus, über den ihr innewohnenden Wert nachzudenken."
Die Wiederentdeckung
Papst Franziskus forderte uns in seinem Nachsynodalen Schreiben "Amoris laetitia" dazu auf, "die Botschaft der Enzyklika Humanae vitae Papst Pauls VI. wiederzuentdecken" als eine Lehre, die es nicht bloß zu bewahren gilt, sondern nach der gelebt werden soll. Es geht um eine Richtschnur, die über die eheliche Liebe hinausgeht und Hinweise darauf liefert, wie die Sprache der Liebe in jeder zwischenmenschlichen Beziehung wahrhaftig lebendig bleibt.
Man hat den Mut Papst Pauls VI. hervorgehoben, weil er sich dem Druck widersetzte, den Gebrauch hormoneller Verhütungsmittel für geschlechtliche Beziehungen in katholischen Ehen zu gestatten. Die wahre Kühnheit der Enzyklika greift allerdings viel tiefer. Sie ist auf der Ebene der Anthropologie angesiedelt, und in diesem Sinne kann diese Enzyklika uns heute helfen, die anthropologischen Herausforderungen in unserer Gesellschaft zu bewältigen.
Die Enzyklika legt ihr moralisches Urteil in einer umfassenden anthropologischen Sichtweise an und vertritt ein ganzheitliches Bild vom Menschen und seiner göttlichen Berufung. Grundlage ihrer Lehre über die Wahrheit des ehelichen Liebesaktes in der "von Gott bestimmten unlösbaren Verknüpfung der beiden Sinngehalte liebende Vereinigung und Fortpflanzung , die beide dem ehelichen Akt innewohnen. Diese Verknüpfung darf der Mensch nicht eigenmächtig auflösen." So hat Papst Paul VI. es formuliert. Auf dieser Grundlage bildet sie einen Gegensatz zur vorherrschenden Anthropologie, die davon ausgeht, dass der Mensch durch sein Handeln Sinn stiftet.
Christliche Anthropologie
Im Bereich der Sexualität drückt sich das im Anspruch aus, dass sich der Mensch nicht nur den Gesetzen, die sein Leib ihm vorgibt, unterordnen, sondern dass er selbst derjenige sein soll, der seiner eigenen Geschlechtlichkeit Bedeutung verleiht. In dieser Anthropologie geht Freiheit vor Natur, so als handelte es sich um zwei unversöhnliche Dinge. Paul VI. weist allerdings darauf hin, dass es Sinngehalte gibt, die der Freiheit vorausgehen und dem Menschen, der sie sich nicht ausgesucht hat, durch die Vernunft zugänglich sind. Sie weisen ihm den Weg und bringen Ordnung in sein Verhalten.
Wenn der Mensch imstande ist, die Sinngehalte des ehelichen Aktes Vereinigung und Fortpflanzung anzuerkennen und auszulegen, bringt er sein Leben auf die richtige Bahn und lebt es in Fülle. In der Enzyklika steht die Natur nicht in Spannung zur Freiheit, sondern liefert der Freiheit die Sinngehalte für die Wahrheit über den ehelichen Liebesakt und seine volle Verwirklichung. Aus meiner Sicht liegt darin die wahre Kühnheit von "Humanae vitae", aufgrund derer die Enzyklika hochaktuell ist.
Die Ablehnung der Enzyklika besteht nicht nur darin, Verhütung zu akzeptieren, sondern sie schließt die Annahme einer dualistischen Anthropologie ein. Diese betrachtet die Natur als Bedrohung der Freiheit und geht davon aus, dass durch die Manipulation des Leibes die Wahrheitsbedingungen des ehelichen Aktes verändert werden können. Aus der beabsichtigten Liebe und Sexualität ohne Kinder wird in Wirklichkeit Sex ohne Liebe. Dies hat nicht nur eine Trivialisierung der menschlichen Sexualität, sondern ein anderes Verständnis von geschlechtlicher Intimität und geschlechtlichen Beziehungen im gesellschaftlichen Gefüge bewirkt.
Der Sinn wird nicht gesehen
Nur so ist das Unvermögen der heutigen westlichen Gesellschaften zu erklären, die moralischen Unterschiede zwischen der geschlechtlichen Vereinigung eines Mannes und einer Frau und der zweier gleichgeschlechtlicher Personen zu erkennen. Wenn die Person selbst ihrer Sexualität durch ihre frei gewählten Handlungen Sinn verleihen soll, dann kann man auch geschlechtliche Beziehungen zwischen Menschen desselben Geschlechtes ohne Weiteres anerkennen, da es allein darauf ankommt, dass diese "affektive Vereinigung" freiwillig eingegangen wird. Von dieser Warte aus bestimmt die Freiheit die Wahrhaftigkeit des Handelns. Die Notwendigkeit, dass menschliches Handeln in diesem Fall der eheliche Liebesakt einer präexistenten, natürlichen oder gottgegebenen Sinnhaftigkeit entspricht, wird nicht gesehen. Er soll schlicht freies Handeln darstellen. Dieser Anthropologie widersetzte sich die Enzyklika und nahm prophetisch die sich daraus ergebenden Probleme vorweg.
Die Ablehnung der Enzyklika hat nicht nur die Sicht auf Liebe und Sexualität berührt, sondern auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Die Anthropologie, die der Empfängnisverhütung zugrunde liegt, ist dualistisch und neigt dazu, den Körper instrumental und nicht personal zu betrachten. Die Formulierung "Mein Körper gehört mir" greift das Instrumentelle des Körpers auf - diesen Dualismus, in dem der Leib auf das rein Materielle reduziert und daher zum manipulierbaren Objekt wird.
Diese Objektifizierung des Leibes bedeutet nicht nur einen Verlust der Wahrheit über die menschliche Liebe und die Familie, sondern hat auch zu weniger Geburten und höheren Abtreibungszahlen geführt. Die Ablehnung der unlösbar miteinander verbundenen Sinngehalte, mit der die Geburtenregelung und der Gebrauch von Verhütungsmitteln verkündet wurde, hat mit der künstlichen Manipulation der Weitergabe des Lebens durch assistierte Reproduktionstechniken eine neue Stufe erreicht. Zuerst war Sexualität ohne Kinder akzeptiert, dann ohne Geschlechtsakt gezeugte Kinder. Das Leben wird nicht mehr als "Geschenk" an sich betrachtet, sondern als "Produkt" und seiner Nützlichkeit entsprechend bewertet.
Fieberhaftes Streben
Dieser Nutzen wird in konkreten Funktionen gemessen und gegenwärtig als "Lebensqualität" bezeichnet. Lebensqualität wird somit zum Unterscheidungsmerkmal zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben. Deswegen darf Letzteres beseitigt werden: eugenische Abtreibungen, Beseitigung Behinderter, etc. All das wird mit einem gewissen "Mitleid" gegenüber den Betreffenden verharmlost.
Diese Manipulation des Leibes ist dem moralischen Relativismus eigen und zeigt sich in der Empfängnisverhütung billigenden Anthropologie. Sie kommt in zwei Ideologien der Gegenwart vor: Der Genderideologie und dem Transhumanismus. Beide gehen von der Prämisse aus, dass keine Wahrheit existiert, die der Einführung ihrer ideologischen Postulate Grenzen setzen darf. Abermals wird die Wahrheit der Natur entgegengesetzt.
Dieses fieberhafte Freiheitsstreben steht in keinerlei Zusammenhang mit der Wahrheit und bewirkt, dass beide Ideologien den Wunsch und den Willen als letzte Gewähr für menschliche Entscheidungen darstellen. Spricht man den Satz "Mein Körper gehört mir", zu Ende, lautet er daher: "und ich mache mit ihm, was ich will". "Was ich will" bringt den bloßen Wunsch als Gewähr für die sittliche Entscheidung zum Ausdruck. Es ist aber gerade der menschliche Leib, der als Hindernis erscheint, als Hürde für die Verwirklichung des Wunsches.
Ganzheitliches anthropologisches Konzept
Wenn die Genderideologie behauptet, das Geschlecht sei ein gesellschaftliches Konstrukt der Bürger und ihm liege eine angebliche sexuelle Neutralität zugrunde, dann muss sie eine anthropologische Wahrheit wie den der menschlichen Spezies eigenen Geschlechtsdimorphismus (männlich und weiblich) leugnen. Die Genderideologie leugnet somit den Zusammenhang von personaler Identität und biologischem Körper. Die Person identifiziert sich nicht über ihren Körper (Leib), sondern durch ihre Orientierung. Jeder Zusammenhang mit dem binären Geschlecht wird beiseite geschoben, um sexuelle Diversität zu verkünden. ( )
Die einzige mögliche Antwort auf diese Ideologien besteht darin, eine ganzheitliche Anthropologie der Person wiederzuentdecken, wie "Humanae vitae" sie darlegt: Die Person stellt darin eine Einheit von Leib und Seele dar. Diese Anthropologie vermag die Freiheit in Fülle zu erfassen und die menschliche Natur zu integrieren. Nur so wird der Mensch er selbst. ( )
Die prophetische Bedeutung der Enzyklika beruht auf ihrem ganzheitlichen anthropologischen Konzept von Liebe, Sexualität und Leben. Diese ganzheitliche Anthropologie lehnt einerseits den biologischen Reduktionismus des Transhumanismus ab und andererseits die Verleugnung des Leibes, den die Genderideologie betreibt. Die Enzyklika ist nach wie vor gültig, weil sie die richtige Antwort des Lehramts auf dualistische Anthropologien gibt, die den Leib instrumentalisieren wollen. Letztere sind keine neuen, postmodernen oder säkularen Humanismen, sondern wahre Antihumanismen. Die Enzyklika legt eine Anthropologie der ganzen Person dar. Diese Anthropologie vermag es, Freiheit und Natur miteinander zu verbinden.
Zu viele Gegenstimmen
Auch heute erfüllt sich die Ankündigung der Enzyklika: "Es ist vorauszusehen, dass vielleicht nicht alle diese überkommene Lehre ohne weiteres annehmen werden; es werden sich, verstärkt durch die modernen Kommunikationsmittel, zu viele Gegenstimmen gegen das Wort der Kirche erheben. Die Kirche aber, die es nicht überrascht, dass sie ebenso wie ihr göttlicher Stifter gesetzt ist, zum Zeichen, dem widersprochen wird, steht dennoch zu ihrem Auftrag, das gesamte Sittengesetz, das natürliche und evangelische, demütig, aber auch fest zu verkünden."
In unserer Welt sind wir auch dazu aufgerufen, "ein Zeichen des Widerspruchs" zu sein, die demütig und fest die Wahrheit über den Menschen, die Sexualität und das Leben verkünden.
Übersetzung aus dem Spanischen von Regina Einig
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